Senckenberg am Meer
VorgeschichteDurch die Forschungsarbeiten von Rudolf Richter, der als Sektionär der Paläontologischen Abteilung seit 1919 regelmäßig für mehrere Wochen jährlich im ostfriesischen Wattenmeer paläontologischen und geologischen Studien nachging, nahm die senckenbergische Meeresforschung einen ganz eigenen Verlauf. Nach und nach entwickelte er die Programmatik einer Aktuopaläontologie und -geologie, bei der es um die Beschreibung und das Verständnis heute am Meeresboden stattfindender Prozesse ging. Damit sollte auch ein Schlüssel zum Verständnis vergangener Prozesse gegeben sein, von denen man in der Paläontologie und der Geologie heute nur mehr Spuren und versteinerte Urkunden sieht. Mit der Ernennung von Rudolf Richter zum außerordentlichen Professor für Erdgeschichte und Paläontologie im Jahre 1925 gewann der programmatische Ansatz auch die notwendige Verbreitung. Vermutlich seit dieser Zeit, sicher aber seit 1927 suchte Rudolf Richter nach einem festen Standort für eine senckenbergische meeresgeologische Station an der Nordsee. Die Wahl fiel auf Wilhelmshaven.
Standortwahl WilhelmshavenDie Gründe beschreibt Rudolf Richter in seinem Bericht an den damaligen Museumsdirektor F. Drevermann. An Aktualität und Klarheit ist dem bis heute nichts hinzuzufügen: „Die anderen Orte erwiesen sich, wie vorauszusehen, als wenig geeignet. Nur Wilhelmshaven bietet Aussicht, immer ohne Kosten (!) auf See zu kommen und draußen zu wohnen...Dazu die Anlehnung an andere Einrichtungen. Von der neuen Wasserbauversuchsanstalt muß ich Ihnen einmal vorschwärmen; sie ist in Zukunft ein neuer Anziehungspunkt für Wattexkursionen....In Betracht kommt ein massiver Ziegelbau...Zur Zeit als Stall usw. vermietet und verbraucht....Sehr günstig ist die Lage: unmittelbar am Hafen !...in einem noch auszuholzenden Wäldchen, das der Marine gehört und zu etwaiger Erweiterung zur Verfügung steht.“ Neben der idealen Lage mit direktem Zugang zur See und zu den Watten war auch ein wichtiges Moment das Interesse der Marine, insbesondere des Marineoberbaurates Dr. h. c. Wilhelm Krüger, der die Bedeutung sedimentologischer Vorgänge für Hafenbau-Maßnahmen kannte und auch selbst geologisch interessiert war. Damit war auch die Verbindung zur Marineführung gegeben. Admiral Hans Zenker, damals Chef der Marineleitung unterstützte das Vorhaben tatkräftig. Damit wird die positive Äußerung des Leiters der zuständigen Marinewerft Konteradmiral und Oberwerftdirektor Walther Franz verständlich (brieflich am 7. Januar 1928 an R. Richter): „Ich habe die für die Werft in Frage kommenden Stellen angewiesen, beschleunigt alle Einzelheiten zu prüfen und sage hiermit die Unterstützung der Werft in jeder Beziehung zu.“
Die Gründung und die phase des aufbausDer Beginn fand auf der Schleuseninsel statt. Ein ehemaliger Pferdestall der kaiserlichen Marine wurde zur Keimzelle, bald wurde ein weiteres Gebäude angebaut und die Bausubstanz nach dem Zweiten Weltkrieg wesentlich erweitert. Bereits in den ersten Monaten des Jahres 1928 wurde der kleine Klinkerbau auf der Schleuseninsel, der zuvor als Stall vermietet war, mit einfachen Mitteln zu einem Labor ausgebaut. Am 1. April 1928 trat hier der Paläontologe Ferdinand Trusheim, finanziert durch die Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft, seinen Dienst an, im selben Jahr auch der Museumsassistent Albert Schwarz. Letzterer übernahm ab 1929 die örtliche Leitung und war im Gegensatz zu dem Aktuopaläontologen F. Trusheim als der Aktuogeologe vorgesehen. A. Schwarz organisierte und leitete auch den ersten Ausbau. Im Jahre 1930 ging F. Trusheim auf eine Assistentenstelle nach Würzburg, später in die Erdölindustrie. A. Schwarz wirkte noch bis 1934 und wechselte dann in die Privatwirtschaft. Im selben Jahr übernahm Walter Häntzschel die Leitung der Anstalt. Er lieferte bedeutende Beiträge zu den Schichtungsformen rezenter Flachmeerablagerungen aber auch zur Aktuopaläontologie. Damit vereinte er die zuvor aufgeteilten geologischen und paläontologischen Arbeiten in einer Person. In der Aufbauphase war solche Vielseitigkeit gefragt und vonnöten. W. Häntzschel verließ Senckenberg am Meer im Jahre 1938, um eine Kustodenstelle am geologischen Museum in Dresden zu übernehmen.
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Institutsgebäude 1970 mit dem Anbau 1966 (Aufn. M. Türkay). | Aufgestockter Neubau im Jahre 1992 (Aufn. M. Türkay). |
Mit der Berufung von Burghard W. Flemming zum Leiter von Senckenberg am Meer im Jahre 1984 wurde ein Schwerpunkt gelegt auf die Quantifizierung von Ablagerungsprozessen, die großflächig erfaßt werden. Die Tradition der zusammenhängenden Bearbeitung von Meeresräumen wurde also aufgenommen und erheblich verfeinert. In diese Phase fallen auch ähnliche Untersuchungen in der Meerespaläontologie und Sedimentpetrographie, die ebenfalls im Rahmen größerer Projekte stattfinden und zu großräumigen Ergebnissen führen. Insgesamt stand auch die Erforschung der groß- und kleinskaligen Dynamik im Vordergrund. In der Meeresbiologie betrifft dies Zeitreihenuntersuchungen zur Quantifizierung von Umwelttrends und die Abhängigkeit der früher eher statisch betrachteten Benthosgemeinschaften von Umweltparametern wie Sediment- und Nährstoffeintrag. Dieser großflächig-dynamische Aspekt ist seitdem kennzeichnend für die Forschung aller Einheiten des Wilhelmshavener Institutes.
Mit Gründung des Deutschen Zentrums für Marine Biodiversitätsforschung (DZMB) kam eine weitere Abteilung an den Standort Wilhelmshaven. Das DZMB wird von Prof. Dr. Pedro Martinez-Arbizu geleitet. Stand bei „Senckenberg am Meer“ bisher die Nordseeforschung im Vordergrund, wurde durch das DZMB ein weltweiter Aspekt der Biodiversitätserfassung hinzugefügt. Diese wesentliche Erweiterung konnte auch räumlich nicht ohne Folgen bleiben. Die alten Gebäude waren zu eng geworden und der Bau entsprach nicht mehr modernen Anforderungen. Mit Hilfe des Bundesministeriums für Bildung und Forschung wurden schließlich drei am Fliegerdeich liegende Gebäude aus Marinebesitz gefunden und Senckenberg zur kostenlosen Nutzung überlassen. Der Umbau zu modernen Institutsgebäuden konnte durch ein finanzielles Engagement des Bundes, des Landes Niedersachsen, der Stadt Wilhelmshaven und der Senckenbergischen Naturforschenden Gesellschaft erfolgen. Nach seinem Abschluss konnten beide Abteilungen im November 2003 umziehen und das neue Domizil mit Leben erfüllen. Der Standort „Senckenberg am Meer“ ist seit 2007 Mitglied des Nordwest Verbundes Meeresforschung, einer Kompetenzbündelung Bremer und niedersächsischer Meeresforschungseinrichtungen.
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Das Rudolf Richter Haus am Fliegerdeich ist der Sitz der Abteilung Meeresforschung . |
DZMB (Eduard Rüppell Haus) und Gerätehalle (in blau). |
Auf Burghard W. Flemming folgte 2010 die Berufung von André Freiwald als Abteilungsleiter Meeresforschung und zugleich Professor für Meeresgeologie an der Universität Bremen, wo er am Zentrum für Marine Umweltwissenschaften (MARUM) verankert ist. Freiwald erforscht mit seiner Arbeitsgruppe rezente und känozoische biosedimentäre Systeme der Schelfmeere in nicht-tropischen Breiten. Dabei bilden Karbonat produzierende marine Ökosysteme, wie zum Beispiel Kalkalgenbänke und Kaltwasser-Korallenriffe den aktuellen Forschungsschwerpunkt hinsichtlich ihrer Produktions- und Bioerosionsbilanzen, ihrer artlichen Zusammensetzung und ihren biotischen/abiotischen Interaktionen mit der Umwelt. Werden am Standort Wilhelmshaven vorwiegend rezente Prozesse und Geo-Ökosysteme erforscht, so werden am Bremer MARUM biosedimentäre Systeme auf ihre Eignung als fossile Umweltrekorder zur Beantwortung paläozeanographischer und –klimatischer Fragestellungen untersucht. Somit findet der ursprüngliche aktuopaläontologische Gründungsgedanke von 1928 seine zeitgemäße Fortsetzung zu Zeiten sich rasch wandelnder Umweltbedingungen und ihren daraus resultierenden Folgen für Umwelt und Gesellschaft in den Küstenregionen.