Schwere Geburt: Auch Schimpansen müssen pressen
Das „Geburtsdilemma“ könnte sich im Laufe der Evolution schrittweise entwickelt haben, zeigt eine neue Studie
Ein internationales Forschungsteam unter Leitung von Dr. Nicole M. Webb vom Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum Frankfurt und PD Dr. Martin Häusler von der Universität Zürich hat die anatomischen Gegebenheiten des Geburtsvorgangs bei Schimpansen mit denen beim Menschen verglichen. Ihre heute im wissenschaftlichen Fachjournal „Nature Ecology and Evolution“ erschienene Studie zeigt: Anders als bisher angenommen sind einzelne, die Geburt erschwerende Faktoren wie ein in Relation zum Kopf des Fötus enger Geburtskanal nicht allein dem Menschen vorbehalten. Das bisher allein durch die Entwicklung des aufrechten Gangs und die Größe des menschlichen Gehirns erklärte „Geburtsdilemma“ sei demnach nicht plötzlich bei der Entwicklung des modernen Menschen entstanden, sondern habe sich vielmehr schrittweise im Laufe der Evolution entwickelt – und beim Menschen dann zugespitzt und verschärft.
Die Geburt bei Schimpansen und anderen Menschenaffen wird gemeinhin als leicht und unproblematisch beschrieben – wegen ihres relativ geräumigen Beckens und des kleinen Kopfes der Neugeborenen. Im Gegensatz dazu ist die Geburt beim Menschen die komplexeste und risikoreichste aller Säugetiere. Die bekannteste Erklärung dafür ist das sogenannte „Geburtsdilemma“. Nach dieser aus den 1960er-Jahren stammenden Hypothese kam es während der menschlichen Entwicklungsgeschichte zu einem evolutionären Konflikt zwischen der Anpassung des Beckens an den aufrechten Gang und der Zunahme der Hirngröße. Einerseits haben sich die Beckenschaufeln verkürzt, um die Balance auf zwei Beinen zu verbessern, wodurch das Becken bei beiden Geschlechtern enger wurde. Andererseits muss der große Kopf des Babys den mütterlichen Geburtskanal passieren. Als evolutionäre Lösung dieses Dilemmas unterscheidet sich zum einen die Form der Beckenknochen deutlich zwischen Frauen und Männern. Zum anderen sind menschliche Babys sekundäre Nesthocker – sie kommen neurologisch unreifer und hilfloser zur Welt als der Nachwuchs übriger Primaten.
Um die These des „Geburtsdilemmas“ zu überprüfen, verglich das Forschungsteam für die neue Studie zunächst die „Platzverhältnisse“ im Geburtskanal von Schimpansen und Menschen, den mittleren Abstand zwischen dem Fötuskopf und dem knöchernen Becken. „Das Becken ist bei beiden Arten völlig unterschiedlich geformt und der Kopf des menschlichen Fötus wird während der Geburt gebeugt, bei Schimpansen dagegen meist gestreckt. Durch eine dreidimensionale virtuelle Simulation des Geburtsvorgangs konnten wir zeigen, dass die räumlichen Gegebenheiten im Schimpansen-Becken tatsächlich genauso eng sind wie bei uns Menschen“, erklärt Paläoanthropologin Dr. Nicole M. Webb und fährt fort: „Gleichzeitig zeigen wir, dass sich auch bei Schimpansen die Beckenform deutlich zwischen den Geschlechtern unterscheidet: Weibchen haben ein geräumigeres Becken als Männchen. Zudem sind auch die Neugeborenen von Schimpansen und anderen Menschenaffen leichte sekundäre Nesthocker und haben – anders als bei geschwänzten Affen – ein deutlich kleineres Gehirn relativ zu dem der ausgewachsenen Individuen, wenngleich der Unterschied nicht ganz so groß ist wie beim Menschen. Entsprechend beginnen junge Makaken mit etwa drei Wochen selbstständig zu laufen und zu klettern, junge Menschenaffen mit fünf bis sechs Monaten und Menschenkinder mit einem Jahr.“
„Aufgrund dieser verblüffenden Parallelen schlagen wir als neue Hypothese vor, dass sich das Geburtsdilemma im Laufe der Evolution schrittweise entwickelt und zunehmend verschärft hat. Dies widerspricht der bisherigen These, dass unsere lange und schwierige Geburt mit der Vergrößerung des Gehirns bei Homo erectus abrupt entstanden ist“, erläutert PD Dr. Martin Häusler und weiter: „Die Zunahme der Körpergröße hat bei den Vorfahren der Menschenaffen wohl zu einem steiferen Becken geführt, dessen Bänder sich während der Geburt weniger dehnen können als bei anderen Affen. Die Evolution des aufrechten Gangs bei den ersten Hominiden führte dann durch die Verkürzung der Beckenschaufeln zu einem verdrehten Geburtskanal, was eine komplizierte Dreh-, Beuge- und Streckbewegung des Fötuskopfes und zeitlich versetzt des übrigen Körpers erfordert – diese ist wohl der eigentliche Grund für die schwierige Geburt beim Menschen und nicht die engen Platzverhältnisse. Denn diese sind bei Schimpansen ähnlich, der Geburtskanal ist jedoch gerade und der Fötus kann einfach durchrutschen.“
Laut der neuen Studie kam es im Laufe der Hominiden-Evolution demnach zu einer Reihe von „Kompromissen“, die schrittweise den Geburtsvorgang erschwerten, nach und nach zu deutlichen Veränderungen in der Beckengestalt und -funktion führten und schließlich im bemerkenswert komplexen Geburtsmuster des Menschen gipfelten. „Die schwierige Geburt und die neurologische Unreife unserer Neugeborenen, mit der langen anschließenden Lernphase, sind eine Grundvoraussetzung für die Evolution unserer Intelligenz. Gleichzeitig stehen wir Menschen damit nur am Ende eines Extrems – unter den Primaten sind wir aber nicht einzigartig“, so Webb, die bei Senckenberg das von der Leibniz-Gemeinschaft geförderte Projekt PUSH@IT (Paleo-obstetric Understanding via Simulation and Heuristic Artificial Intelligence Tools) zur Erforschung der Evolution der Schwierigkeiten bei der menschlichen Geburt leitet, und abschließend: „Tatsächlich gibt es sogar einzelne Beobachtungen von ‚Geburtshilfe‘ unter in Gefangenschaft lebenden Orang-Utans. Geburten von Menschenaffen in freier Wildbahn wiederum werden nur äußerst selten beobachtet – hier benötigen wir dringend mehr Daten zu ihrem Verhalten bei der Geburt.“
Publikation: Webb N., Fornai C., Krenn V., Watson L, Herbst E. and Häusler M. Gradual exacerbation of obstetric constraints during hominoid evolution implied by re-evaluation of cephalopelvic fit in chimpanzees. Nature Ecology & Evolution. 23 Oct 2024.
https://doi.org/10.1038/s41559-024-02558-7