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Die Entdeckung einer ausgerotteten Landschildkröte
Einem internationalen Forschungsteam unter Leitung des Senckenbergers Uwe Fritz ist es gelungen, das Erbgut von bis zu 1.200 Jahre alten Schildkrötenfunden aus dem westlichen Indischen Ozean zu sequenzieren. Dabei wurde eine im Mittelalter ausgerottete Landschildkrötenart aus Madagaskar entdeckt, die eine Panzerlänge von einem halben Meter erreichte. Acht Riesenschildkrötenarten lebten auf Madagaskar und benachbarten Inseln, die bis auf eine Art auf Aldabra ausgerottet wurden, heißt es in der jetzt im renommierten Fachjournal „Science Advances“ publizierten Studie.
Das Sequenzieren von DNA aus historischen Bodenfunden in den Tropen ist eine Herausforderung, die weltweit nur wenige Labore meistern können. Die meisten DNA-Spuren, die sich in solchen Proben finden, sind Verunreinigungen durch Pilze und Bakterien oder stammen von den Menschen, die das Material ausgegraben haben. Das originale Erbgut ist dagegen nur noch selten vorhanden – dann in verschwindend geringer Konzentration und in kleinste Fragmente zerbrochen. Nur durch aufwändige Verfahren, die mit Reinraumlaboren und „DNA-Ködern“ arbeiten, lässt sich in manchen Fällen die originale DNA finden und sequenzieren. Dem Team von Professor Uwe Fritz von den Senckenberg Naturhistorischen Sammlungen Dresden (SNSD) ist es nun gelungen, aus Knochenfunden und Museumsexemplaren DNA von Riesenschildkröten zu sequenzieren, die aus Madagaskar und von benachbarten Inseln stammen. So konnten die Evolution und Ausrottung dieser Tiere rekonstruiert werden.
Dabei zeigte sich, dass auf Madagaskar, Aldabra und den Seychellen drei nahe verwandte Riesenschildkrötenarten vorkamen, von denen zwei im Mittelalter, wenige Jahrhunderte nach der Besiedlung Madagaskars, ausgerottet wurden. Diese Arten sind nicht verwandt mit fünf weiteren Spezies, die auf Mauritius, Réunion und Rodrigues lebten – den östlichen Nachbarinseln Madagaskars, die durch den flugunfähigen Dodo eine gewisse Berühmtheit erlangt haben. Wie auf Madagaskar verschwanden die Riesenschildkröten auch hier nach der Ankunft der ersten Menschen, in diesem Fall allerdings erst vor etwa 200 Jahren.
„Unsere Studie gehört zu einem neuen Forschungsschwerpunkt von Senckenberg, der sich mit dem Einfluss des Menschen auf die Artenvielfalt beschäftigt. Wir denken häufig, dass der Mensch erst in jüngerer Zeit Arten ausgerottet hat. Tatsächlich ist es aber so, dass Menschen schon früh lokale Nahrungsressourcen ausgebeutet und ihre Umwelt verändert haben“, erläutert Professor Uwe Fritz und fährt fort: „Dadurch verschwanden weltweit viele große Tierarten, wie etwa die meisten Riesenschildkrötenarten im westlichen Indischen Ozean. Dies führte zu massiven Störungen des natürlichen Gleichgewichts, denn die ursprünglich häufigen und bis zu 200 kg schweren Riesenschildkröten vertraten auf den Inseln die großen Huftiere des Festlands. Beispielsweise sind manche Baumarten auf diesen Inseln heute vom Aussterben bedroht, weil die Riesenschildkröten verschwunden sind. Die Baumsamen wurden früher nämlich erst keimfähig, wenn ihre harte Schale von den Schildkröten nach dem Fressen teilweise verdaut worden war. Seit die Schildkröten verschwunden sind, können keine Jungpflanzen mehr keimen. Das zeigt, dass der Verlust einer Art einen fatalen Dominoeffekt im Ökosystem auslösen kann.“
Eine große Überraschung erlebte das Forschungsteam außerdem mit dem Knochenmaterial aus Madagaskar. Dr. Christian Kehlmaier, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Molekulargenetischen Labor der SNSD und Erstautor der Studie, berichtet: „Wir verwendeten für unsere Arbeit oft kleine, für die Wissenschaft vermeintlich wertlose Knochenstücke. Aus einem solchen Fragment konnten wir Erbgut isolieren, das beweist, dass es auf Madagaskar eine weitere ausgerottete Landschildkrötenart gab, die eine Panzerlänge von etwa einem halben Meter erreichte. Eine Radiokarbondatierung des Knochens zeigte, dass diese Art noch im Mittelalter auf Madagaskar lebte und genau wie die Riesenschildkröten nach der Ankunft des Menschen verschwunden sein muss. Ähnliche Entdeckungen sind bestimmt noch bei weiteren Tiergruppen zu erwarten.“