Siesta zu zweit. Einer der beiden uns begleitenden Straßenhunde beim dezenten Kuschelkontakt. Ich war zuerst da...

#6: Zu den südlichsten Wäldern der Welt … und darüber hinaus

Ein Reisebericht von Dr. Birgit Kanz

Dr. Christian Printzen und Dr. Birgit Kanz, Wissenschaftler*innen vom Senckenberg Forschungsinstitut Frankfurt, sind unterwegs nach Puerto Williams am südlichsten Zipfel Feuerlands. Sie wollen auf der chilenischen Isla Navarino die Biodiversität der Flechten und Pflanzen erforschen und – nicht zuletzt – grandiose Landschaften und unberührte Natur genießen.

Mit ihren Reiseberichten hier auf dem Mitglieder-Blog (immer am Freitag, wenn dies die Umstände zulassen) lässt uns Birgit Kanz teilhaben an ihren Erfahrungen, Begegnungen und wissenschaftlichen Erkenntnissen in den südlichsten Wäldern der Welt – und darüber hinaus.

#4 Die Herrscher von Puerto Williams

Puerto Williams, 7.1.2022

Dass durch den Beagle-Kanal oft heftige Winde pfeifen, hatte ich ja schon berichtet. An solchen Tagen pfeift es laut um unser Haus und gelegentlich spürt man, wie sich die Wände bewegen. Im Gegensatz dazu kann es bei einer Flaute hier am äußersten Rand der besiedelten Welt ganz besonders still sein. Das fällt mir vor allem nachts auf, wenn ich selbst zur Ruhe gekommen bin, aber auch tagsüber ist es bisweilen überraschend leise.

Es gibt zum Beispiel keinen nennenswerten Verkehrslärm. Obwohl auch hier vor jedem Haus ein Auto steht, fahren nur wenige davon durch den Ort. Der Flugverkehr und das damit verbundene Getöse – Puerto Williams ist vielleicht der einzige Ort dieser Größe, der über einen Flughafen und einen Hafen verfügt – sind erfreulicherweise kaum der Erwähnung wert. Meist landet und startet nur ein Flugzeug am Tag, selten mehrere, an manchen Tagen auch gar keines. Von meinem Bürofenster kann ich die Bewegungen gut beobachten. Als sehr angenehm empfinde ich es, dass hier nicht täglich jemand in der Nachbarschaft ein Gartengerät anwirft, um Hecke oder Rasen in Form zu halten oder den aussichtslosen Kampf gegen unerwünschtes Laub und Moos-/Algen-/Flechtenbewuchs fortzusetzen. An vielen Häusern wird tagsüber gewerkelt, die Rasenpflege übernehmen hier Andere. Und das ist der Stille nicht immer zuträglich …

In Deutschland wird ja heutzutage in nahezu jedem Haushalt ein Haustier gehalten. Ich kann manchmal nur den Kopf schütteln über diese Entwicklung. Besonders merkwürdig finde ich, in welchem Maße sich Größe und Sortiment der Tierhandlungen erweitern, oder dass auf dem Frankfurter Weihnachtsmarkt eine Bude mit fantasievoll angerichtetem Hundefutter steht. In Puerto Williams hat buchstäblich jedes Haus mindestens einen Hund, aber Handtaschenhunde oder Nouvelle Cuisine für Tiere sucht man auf den Straßen und in den beiden Supermärkten vergebens. Stattdessen existieren ganze Rudel von Straßenhunden, die zurückgelassen wurden, als ihre Besitzer*innen aus Puerto Williams weggezogen sind (Abb. 1). Diese Hunde liegen tagsüber meist gelangweilt am Straßenrand. Wenn ein vorbeifahrendes Auto sie in ihrer Ruhe stört, regen sich manche furchtbar auf und schnappen bellend nach Kotflügeln und Reifen, so dass die auf diese Weise verfolgten Autofahrer nicht selten bremsen und abwarten müssen, bis sich die aufgebrachte Hundemeute zerstreut hat. Puerto Williams bietet für Straßenhunde kaum andere Zerstreuungen – man schlendert auf der Suche nach einer sinnvollen Beschäftigung durch die Vororte und beschnuppert einander (Abb. 2). Am vergangenen Sonntag bot sich für zwei Exemplare die einmalige Gelegenheit, uns auf einer botanischen Exkursion an die Bahia Virginia, ca. 12 Kilometer westlich von Puerto Williams, zu begleiten. Was für eine Abwechslung!

Nicht dass wir die beiden eingeladen hätten. Wir waren bloß so unvorsichtig, mit unseren Fahrrädern etwas zu langsam an ihnen vorbeizufahren. Die beiden fühlten sich eingeladen und ab sofort zuständig für uns. Egal, ob langsam den Hügel hinaufschnaufend oder mit Hallo wieder hinab – die beiden hielten mit uns mit und sorgten dafür, dass die Herde nicht auseinanderfiel. Wir weigerten uns zwar hartnäckig, auch nur den kleinsten freundlichen Kontakt mit ihnen aufzunehmen, brüllten sogar mitunter laut, weil sie leichtsinnig vor die Räder liefen. Aber offenbar reichte dieser Grad an Zuwendung schon aus, um uns zumindest kurzzeitig zum Rudel ihrer Wahl zu machen. Kurz: Die beiden verließen uns den ganzen Tag nicht mehr. Hechelten vor und hinter uns her, verbreiteten dabei einen infernalischen Gestank und fanden uns, obwohl wir weder Futter noch Wasser für sie hatten, offenbar interessanter als die vertrauten Gesichter daheim. Zugegeben, am Ende fühlten auch wir eine gewisse Zuneigung und teilten eine unserer Wasserflaschen mit ihnen (Abb. 3). Zurück in Puerto Williams mischten sich die beiden wieder unter ihresgleichen; wir waren also wirklich nur eine willkommene Abwechslung gewesen.

 

Einige Leser*innen fragen sich bestimmt schon seit Minuten, wer hier nun eigentlich den Rasen mäht und warum das zu Lärm führt. Um die Spannung nicht ins Unerträgliche zu steigern, will ich dieses Rätsel noch rasch auflösen. Nicht nur Hunde genießen in Puerto Williams große Freiheiten, auch Pferde und Kühe grasen hier, wo sie wollen (Abb. 4-6). Das führt dazu, dass die Vorgärten zwar ziemlich schmucklos, aber immer gut gemäht erscheinen. ABER es erregt die in den Vorgärten herumlungernden Hunde gelegentlich bis zur Raserei, besonders spät abends. Als Antwort auf das Gebelle der wütenden Vorgartenhüter erhebt sich dann regelmäßig ein anschwellendes Bell- und Heulkonzert, das nach 5 bis 10 Minuten abebbt, bis kurz danach von einer anderen Ecke des Orts ausgehend ein erneutes Crescendo die eigentlichen Einwohner von Puerto Williams fröhlich vereint.

Mit diesen diesmal ganz unbotanischen Impressionen wünsche ich allen eine gute Nacht. Morgen geht es für vier Tage ins Gelände. Die Montes Miseria im Osten der Insel sind bisher von keinem Lichenologen und fast keiner Botanikerin betreten worden. Dahin begleiten uns hoffentlich keine Hunde.

Besonderer Pflege erfreuen sich die besitzerlosen Straßenhunde nicht. Sie werden jedoch gefüttert.
Abb. 1 Besonderer Pflege erfreuen sich die besitzerlosen Straßenhunde nicht. Sie werden jedoch gefüttert.
Fremde Hunde im Revier. Hier muss gründlich untersucht werden.
Abb. 2 Fremde Hunde im Revier. Hier muss gründlich untersucht werden.
Siesta zu zweit. Einer der beiden uns begleitenden Straßenhunde beim dezenten Kuschelkontakt. Ich war zuerst da...
Abb. 3 Siesta zu zweit. Einer der beiden uns begleitenden Straßenhunde beim dezenten Kuschelkontakt. Ich war zuerst da…
Der Trupp von Grünflächenamt.
Abb. 4 Der Trupp von Grünflächenamt.
Was braucht es hier einen elektrischen Rasenmäher?
Abb. 5 Was braucht es hier einen elektrischen Rasenmäher?
Auch Hornvieh beteiligt sich zum Schrecken vieler Hunde an der Gartenpflege.
Abb. 6 Auch Hornvieh beteiligt sich zum Schrecken vieler Hunde an der Gartenpflege.