To our foreign readers: we are sorry, but this page is not available in english.
#10: Zu den südlichsten Wäldern der Welt … und darüber hinaus
Ein Reisebericht von Dr. Christian Printzen
Dr. Christian Printzen und Dr. Birgit Kanz, Wissenschaftler*innen vom Senckenberg Forschungsinstitut Frankfurt, sind unterwegs nach Puerto Williams am südlichsten Zipfel Feuerlands. Sie wollen auf der chilenischen Isla Navarino die Biodiversität der Flechten und Pflanzen erforschen und – nicht zuletzt – grandiose Landschaften und unberührte Natur genießen.
Mit ihren Reiseberichten hier auf dem Mitglieder-Blog (immer am Freitag, wenn dies die Umstände zulassen) ließ uns Birgit Kanz teilhaben an ihren Erfahrungen, Begegnungen und wissenschaftlichen Erkenntnissen in den südlichsten Wäldern der Welt – und darüber hinaus.
Nach ihrer Rückkehr nach Deutschland geht unser Reiseblog trotzdem noch ein wenig weiter, denn Christian Printzen berichtet jetzt von seinen Abenteuern in Südamerika.
#10 Ein Sonntagsausflug ohne Flechten
4.2.2022
Heute gibt es mal nichts von Flechten oder Pflanzen zu berichten. Meine gestrige Bergtour auf den „Cara del Indio“ östlich von Puerto Williams endete nämlich kurz nach Erreichen der Baumgrenze, als das eben noch angenehme Wetter plötzlich in heftigen Wind und Regen umschlug. Mit ein paar eilig zusammengerafften Flechtenproben im Gepäck kam ich drei Stunden später ziemlich verschlammt an der Station an. Hier werden uns freundlicherweise Mountainbikes zur Verfügung gestellt, und diese verkürzen die Anfahrtswege erheblich – haben aber keine Schutzbleche.
Ich war also in ziemlich moroser Stimmung, als meine beiden Mitbewohnerinnen Claudia und Valeria mich daran erinnerten, dass heute der letzte Sonntag im Monat sei. An diesem Tag legt die schon im letzten Beitrag erwähnte Fähre, die Puerto Williams mit der Welt verbindet, regelmäßig eine Extratour zur nun aber wirklich südlichsten Siedlung der Welt ein: Puerto Toro. Die Fahrt dient natürlich nicht in erster Linie der Belustigung der Reisenden oder der örtlichen Bevölkerung, sondern der Versorgung von Puerto Toro (Abb. 1).
Obwohl diese Strecke bei Tourist*innen beliebt ist, bietet die Fährgesellschaft sie kostenlos an. Es ist eine Art Mitfahrgelegenheit, bei der man frühzeitig vor Ort sein muss, um noch einen Platz zu ergattern. So liefen wir um 7 Uhr morgens bei einsetzendem Nieselregen durch die Gassen des sonntäglich stillen Ortes zum Hafen, bemerkt nur von den allgegenwärtigen Straßenhunden und anderen Mitreisenden mit dem gleichen Ziel. Wir bildeten die Spitze der Warteschlange, und so waren uns die Plätze sicher.
Der Ort Puerto Toro ist zwar klein – der Zensus von 2002 verzeichnete 36 Einwohner – aber gut 60 Jahre älter als das 1953 gegründete Puerto Williams. Seine Gründung geht auf einen kleinen Goldrausch zurück, der zwischen 1883 und 1906 dazu führte, dass viele der Inseln südlich des Beagle Kanals kurzzeitig von Goldsuchern besiedelt wurden, die die dort schon lange lebende Urbevölkerung der Yagan meist bekämpften und vertrieben. Das 1892 gegründete Puerto Toro existiert als einzige der damals aus dem Boden geschossenen Siedlungen bis heute. Die Fahrt dorthin dauert knapp 3 Stunden, in denen es mit etwas Glück neben beeindruckender Landschaft Seevögel und andere Meeresbewohner zu sehen gibt. Unter den Vögeln fallen zuerst die Riesensturmvögel mit ihrem großen Schnabel„-Aufsatz“ auf (Abb. 2), namengebend für die Vertreter der Vogelordnung der Röhrennasen. Zur selben Ordnung gehören auch die Schwarzbrauen-Albatrosse (Abb. 3), die man an ihren schmalen Flügeln und ihrem selbst bei stürmischem Wetter völlig entspannt wirkenden Gleitflug erkennen kann. Nicht flugfähig, aber dafür im Wasser überaus wendig und elegant sind die Magellan-Pinguine (Abb. 4). Sie treten oft in größeren Gruppen auf und können ungemein schnell schwimmen, wobei sie wie die Weißbauch-Delphine (Abb. 5) immer wieder aus dem Wasser springen. Gelegentlich dümpeln sie aber auch nur vor sich hin.
Das Wetter hatte sich seit gestern nur wenig verbessert. Auf der Hinfahrt erforderten heftige Windböen und wiederholte Regenschauer (Abb. 6) mehr Durchhaltevermögen, als ich nur halb ausgeschlafen an einem Sonntagmorgen aufzubringen vermochte. Den größten Teil der Fahrt verbrachte ich deshalb in der Kabine. Als wir uns Puerto Toro (Abb. 7) näherten, ließ der Regen nach. Der Hafen des Ortes besteht aus einem Holzsteg, der für die Fähre allerdings bedeutungslos ist, denn Passagiere und Fracht werden einfach am Kiesstrand entladen (Abb. 8). Ungefähr in der Mitte des Ortes lockt ein großes Schild als Foto- und Selfiemotiv (Abb. 9). Man ist ganz offensichtlich stolz auf den Status als südlichste Siedlung der Welt, dabei ist Puerto Toro noch in anderer Hinsicht einzigartig. Durch seine Lage südlich des Beagle-Kanals ist es die einzige chilenische Ortschaft, die am Atlantik liegt. Der Name der kleinen Kapelle „San Piedro Pescador“ (Abb. 10) ist gut gewählt. Die meisten Bewohner*innen des Ortes leben von der Fischerei, allerdings nicht vom Fisch- sondern vom Krabbenfang (Abb. 11), was den heiligen Petrus sicherlich mit Grausen erfüllt hätte. Die magellanische Königskrabbe (Abb. 12) wird von den Einheimischen „centolla“ genannt. Sie ist deutlich kleiner als ihre im Nordpazifik beheimatete Verwandte, aber immer noch groß und zahlreich genug, um als lukrative Einnahmequelle dienen zu können. Die Fangsaison ist lange vorbei, die Körbe warteten an Land auf ihren Einsatz im kommenden Juli. Unter dem regenverhangenen Himmel machte sich herbstliche Stimmung breit. Auf dem Waldboden lagen modernd die Reste der Cyttaria-Fruchtkörper umher (Abb. 13), die bei unserer Ankunft im November noch grell orange an den Bäumen gehangen hatten (siehe Blogbeitrag #3, Abb. 33).
Nach einer Stunde war der Besuch auch schon vorbei. Auf der Rückfahrt besserte sich das Wetter langsam, so dass ich den größten Teil der Zeit an der frischen Luft verbrachte und deshalb diesen Beitrag mit zwei kurzen historischen Episoden beenden kann.
Da ist zunächst das pittoreske Wrack der „Logos“, die 1988 auf einen Felsen lief (Abb. 14). Das Schiff verkehrte nach dem 2. Weltkrieg zwischen Dänemark und Grönland, wurde 1970 von einem Missionswerk gekauft, um christliche Schriften unter die Leute zu bringen, und war an der Rettung von Bootsflüchtlingen beteiligt, bevor es 1988 im Beagle-Kanal havarierte. Die chilenische Marine nutzte es danach kurzzeitig als Ziel für Schießübungen, was dem Wrack, aus welchen Gründen auch immer, offenbar nicht viel anhaben konnte. Die winzige Insel „Snipe“ (Abb. 15), eigentlich eher ein Felsen, war dagegen Ziel ernsterer militärischer „Übungen“, die es als „Snipe-Zwischenfall“ zu einem stellenweise burlesken Wikipedia-Eintrag gebracht haben. Im Januar 1958 eskalierte ein jahrzehntelang schwelender Konflikt um die eigentlich seit 1881 vertraglich geregelten Landesgrenzen zwischen Chile und Argentinien, als die chilenische Marine einen Leuchtturm auf der Insel errichtete. Dieser wurde in der Folge von argentinischen Kräften ins Meer geworfen und durch einen argentinischen ersetzt, der wiederum von den Chilenen demontiert und nach Puerto Williams verfrachtet wurde. Chile stellte nun einen dritten Leuchtturm auf die Insel, der aber schon tags darauf durch Beschuss von einem argentinischen Zerstörer demoliert wurde. Ehe das Ganze zu einem Krieg ausartete, einigte man sich schließlich darauf, hier überhaupt keinen Leuchtturm zu bauen. Die Situation spitzte sich aber immer wieder so zu, dass beide Staaten schließlich vor ein internationales Schiedsgericht zogen, das den öden Felsen Chile zusprach. Mittlerweile gibt es auch wieder – aufmerksame Leser*innen haben es bereits bemerkt – einen Leuchtturm. Einem Gewährsmann in Puerto Williams zufolge lebt dort außerdem seither ein Angehöriger der Marine mit seiner Frau. Ich möchte mit den beiden nicht tauschen.