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#3: Zu den südlichsten Wäldern der Welt … und darüber hinaus
Ein Reisebericht von Dr. Birgit Kanz
Dr. Christian Printzen und Dr. Birgit Kanz, Wissenschaftler*innen vom Senckenberg Forschungsinstitut Frankfurt, waren Ende 2021 unterwegs nach Puerto Williams am südlichsten Zipfel Feuerlands. Sie wollen auf der chilenischen Isla Navarino die Biodiversität der Flechten und Pflanzen erforschen und – nicht zuletzt – grandiose Landschaften und unberührte Natur genießen.
Mit ihren Reiseberichten hier auf dem Mitglieder-Blog ließ uns Birgit Kanz teilhaben an ihren Erfahrungen, Begegnungen und wissenschaftlichen Erkenntnissen in den südlichsten Wäldern der Welt – und darüber hinaus.
Weil das so spannend war, können Sie die Reise in den Sommerferien noch einmal miterleben; täglich wird einer der elf Beiträge veröffentlicht!
#3 Faszinierende Wälder
Puerto Williams, 14. Dezember 2021
Die Beschreibung der südlichsten Stadt der Welt muss noch ein wenig warten. Nach dem Einkauf im Lebensmittelladen wollten wir uns nicht länger im Ort aufhalten, denn es zog uns erstmal in die südlichsten Wälder der Welt. Sie stehen hier in der Región de Magellanes noch 10º südlicher als die Wälder Neuseelands. Darüber hinaus zählen sie zu den wenigen verbliebenen Wildnisgebieten auf der Erde, die von anthropogenen Störeinflüssen noch weitestgehend verschont geblieben sind. Umstände, die uns ungemein faszinieren!
Die südhemisphärischen Südbuchenwälder auf Isla Navarino
Puerto Williams ist, abgesehen von der Meerseite, gänzlich von Wald umschlossen. Oder anders ausgedrückt: Puerto Williams samt Flughafen schlägt eine Bresche in den hier an der Nordküste mehr oder weniger geschlossenen Waldbestand (Abb. 1). Bis auf kleinere Lücken, die von Mooren oder von durch die Biber „gewässerten“ Flächen eingenommen werden, erstreckt sich der Wald von der Küste bis in eine Höhe von 450 bis 650 Metern (Abb. 2). In diesen Breiten endet der Wald völlig abrupt schon in diesem recht niedrigen Bereich und bildet eine Waldgrenze, die wie mit dem Lineal gezogen wirkt. Diese bildet zugleich die Baumgrenze (Abb. 3 bis 6). Aus unseren Gebirgen kennen wir dieses Phänomen gar nicht mehr, denn dort beeinflussen seit Jahrhunderten die Alm- und Forstwirtschaft die natürliche Waldgrenze, lassen sie ausfransen und drücken sie meist tief hinab. Hier hingegen wird sie ausschließlich durch natürliche Wirkfaktoren bestimmt wie Temperatur, Niederschlag und Windexposition. Jenseits der Grenzlinie ist die Temperatur bei gegebenem Niederschlag für ein Baumwachstum schlicht zu niedrig.
Es sind generell nur wenige Baumarten, denen das Leben hier auf 55º südlicher Breite behagt, und auch insgesamt ist die Artenzahl höherer Pflanzen sehr überschaubar; sie beträgt für die Región de Magallanes nur noch annähernd 770 Arten. Ganz anders sieht das bei den niederen Pflanzen (Kryptogamen) und besonders bei den Flechten und Moosen aus, denn diese bilden hier einen regelrechten Biodiversitäts-Hotspot. Außerdem ist diese Lebensform durch einen hohen Grad an Endemismus gekennzeichnet, d.h. der Anteil an Arten, die ausschließlich in diesem abgegrenzten geographischen Areal vorkommen. Bei Moosen liegt er beispielsweise bei mehr als 50 Prozent.
Als erstes fielen mir im Wald die stark verwachsenen Baumkronen auf. Stämme und Äste wirkten viel zu kräftig im Verhältnis zu den irgendwie reduziert ausgebildeten Kronen. Bei aller anthropogenen Ungestörtheit wirkte das Innere des Waldes dennoch beeinträchtigt. Schuld daran sind die ständig und meist heftig wehenden (West-)Winde, die ohne Unterlass an den Baumkronen zerren und Blätter und Knospen schädigen. Sie stellen einen großen Stressfaktor für die Bäume dar. So entwickeln diese nicht erst in der für größere Höhen typischen Krummholzzone einen deformierten Habitus, sondern zeigen dieses Phänomen in ihren Wipfeln schon im hochwüchsigen Zustand im Tiefland. Verstärkt wird dieser irritierende Eindruck durch die Tatsache, dass die am Waldaufbau beteiligten Baumarten keine mir vertrauten, üppig Blätter ausbildenden Laubbäume sind, sondern durchweg sehr kleinblättrige Arten. Zwar noch nicht nadelförmig (Nadelbäume, also Gymnospermen, gibt es hier unten gar nicht), aber doch auch nicht breiter als 30 und nicht länger als 40 Millimeter. Das heißt, kein üppiges Blätterdach verdeckt das krummwüchsige Gezweig.
Bei diesen Wäldern handelt es sich durchweg um Südbuchenwälder (Abb. 8 und 9). Die Südbuchen oder auch Scheinbuchen (Nothofagus) genannt, gehören wie unsere Rotbuchen zur Ordnung der Buchenartigen (Fagales), wachsen aber nur in der Südhemisphäre. Unser nordhemisphärischer Fagus und der südhemisphärische Nothofagus weisen oberflächlich betrachtet überhaupt keine Ähnlichkeit miteinander auf, ihre Keimlinge allerdings sind sich zum Verwechseln ähnlich (Abb. 10).
Die Entstehungsgeschichte der Südbuchen geht auf die Zeit des Großkontinents Gondwana zurück, das verrät ihr heutiges (disjunktes) Verbreitungsmuster. Während des Auseinanderbrechens von Gondwana, das vor etwa 165 Millionen Jahren begann und immer noch anhält, drifteten die Bäume auf ihren jeweiligen Kontinentalplatten (Südamerika, Australien, Neuseeland, Neuguinea und Neukaledonien) an die heute jeweils aktuellen Standorte.
Baumschicht
Hier in der Región de Magellanes dominieren nun drei Arten dieser Gattung die hiesigen Wälder: die immergrüne Magellan-Südbuche oder Coigüe (Nothofagus betuloides; Abb. 11) und die beiden laubabwerfenden Arten Lenga-Südbuche (N. pumilio; Abb. 12) und Antarktische Scheinbuche oder Ñirre (N. antarctica, Abb. 12a). Im Tiefland treten bis zu einer Höhe von etwa 300 Metern noch drei weitere Baumarten eingestreut auf: Magellanische Winter-rinde oder Canelo (Drimys winteri; Abb. 13 und 14), Magellans Mayten oder Leña dura (Maytenus magellanica) und Chilenischer Feuerbaum oder Notro (Embothrium coccineum; Abb. 15 und 16). Oberhalb von 300 Metern fallen sie zusammen mit der Magellan-Südbuche aus, und die Lenga-Südbuche übernimmt allein bis zur Waldgrenze die Dominanz. Auf den letzten Metern verändert sie ihre Wuchsform und bildet zwischen 500 bis 650 Metern die sogenannte Krummholzzone, in der sie – wie der Name schon sagt – nur noch krumme, halb niederliegende Stämme ausbildet.
Strauchschicht
Unterhalb der Baumkrone geht es im Unterwuchs ausgesprochen stachelig zu. Wir können uns hier nirgendwo hinknien, um etwas am Boden zu inspizieren, ohne dass sich Stacheln bzw. Dornen durch unsere Hosen und in unsere Hände bohren. Insbesondere die Torfmyrte (Gaultheria mucronata; Abb.17) macht ständig unangenehm auf sich aufmerksam. Sie ist in allen Höhenstufen zu finden und verändert mit zunehmender Höhe lediglich ihre Wuchsform von einem hochwüchsigen in einen niedrigen bis kriechenden Strauch. Kaum angenehmer verhalten sich Ilexblättrige und Buchsblättrige Berberitze (Berberis ilicifolia, B. buxifolia; Abb. 18 und 19), die aber wenigstens mit auffälligen, wunderschönen Blüten zu beschwichtigen suchen. Die schwarzbeerige Magellanische Johannisbeere (Ribes magellanicum; Abb. 20) verhält sich hingegen weniger wehrhaft. Vielmehr schürt sie große Hoffnungen auf eine reiche Beerenernte, denn sie hat unzählige Blütenrispen ausgebildet. Die Beeren sind essbar – ich hoffe, ich bin noch lang genug hier, um sie genießen zu können.
Krautschicht
An krautigen Arten am Waldboden ist besonders die Miniversion des Mammutblattes (Gunnera magellanica; Abb. 21 und 22) zu nennen, die zusammen mit dem kleinen Seefeder-Rippenfarn (Blechnum penna-marina; Abb. 23) große Herden ausbildet, wenn der Boden gut durchfeuchtet ist. Die eng an den Boden angeschmiegte, ausläuferbildende Rubus geoides braucht es lichter, bildet dann aber auch zahllose Rosettchen aus (Abb. 24). Regelmäßig treten auch großwüchsige Kräuter auf, besonders häufig die Nussfrüchtige Süßdolde (Osmorhiza depauperata; Abb. 25) und die großblättrige Composite Macrachaenium gracile. Bildhübsch ist die kleine Weiße Hundeorchidee (Codonorchis lessonii; Abb. 26 und 27), die viele kleine Trupps bildet. Im Spanischen wird sie Palomita = Täubchen genannt. Eine Bezeichnung, die ihrem Aussehen viel mehr entspricht und mir auch viel besser gefällt. Ebenso hübsch ist das kräftige gelbe Veilchen Viola reichei (Abb. 28), das immer wieder zwischendrin größere Flecken besiedelt.
Baumschmuck
Ein anderer Aspekt, der hier natürlich unbedingt Erwähnung finden muss, ist das beeindruckende Flechtenvorkommen in den Wäldern. Wie schon gesagt, trumpfen in dieser Region die niederen Pflanzen auf. Besonders Blattflechten der Gattungen Pseudocyphellaria und Nephroma nehmen hier teilweise gigantische Ausmaße an und überziehen Boden (Abb. 29) und Bäume mit enorm großen Thalli (Abb. 30 und 31). Auch die Gattung Pseudocyphellaria hat ihren Ursprung im alten Südkontinent Gondwana. In Neuseeland und dem südlichen Südamerika kommen jeweils mehr als 50 Arten vor, ungefähr 20 davon auch auf Navarino.
Was bei uns die Mistel ist, ist hier der Halbschmarotzer Misodendrum punctulatum, auf Spanisch passend Candelero chino = Chinesische Laterne genannt (Abb. 32). Ein Halbschmarotzer ist er deshalb, weil er nur teilweise seinen Nährstoffbedarf von seinem Wirt bezieht und in der Lage ist, den anderen Teil durch Photosynthese selbst zu produzieren. Er befällt ausschließlich Südbuchen. Daneben entdecken wir sofort noch einen anderen Befall an den Bäumen: runde, gelb-orange, 2 bis 5 Zentimeter große, fleischige Gebilde. Es handelt sich um Fruchtkörper von Cyttaria-Pilzen, die ebenfalls ausschließlich Südbuchen befallen (Abb. 33). Aufgrund ihrer gemeinsamen Vergangenheit auf dem Gondwana-Kontinent weisen sie das gleiche Verbreitungsmuster wie diese auf. Sie sehen regelrecht appetitlich aus, und angeblich kann man sie tatsächlich essen; am besten sollen sie sauer eingelegt schmecken. Bei den Indigenen waren sie offenbar sehr beliebt.
Weil Christian und ich ja nicht nur mit den Augen auf dem Boden oder an den Bäumen geheftet durch den Wald stiefeln, sondern die Blicke auch neugierig umherschweifen lassen, und wir insbesondere auch Ohren haben, möchte ich diesen Blogbeitrag mit Fotos von drei Vogelarten enden lassen (Abb. 34, 35 und 36), wobei das allerletzte wirklich ein Paukenschlag ist: der größte Specht Südamerikas, leider im Rückgang befindlich. Er flog uns direkt vor die Linse.