Abb. 10

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#5: Zu den südlichsten Wäldern der Welt … und darüber hinaus

Ein Reisebericht von Dr. Birgit Kanz

Dr. Christian Printzen und Dr. Birgit Kanz, Wissenschaftler*innen vom Senckenberg Forschungsinstitut Frankfurt, sind unterwegs nach Puerto Williams am südlichsten Zipfel Feuerlands. Sie wollen auf der chilenischen Isla Navarino die Biodiversität der Flechten und Pflanzen erforschen und – nicht zuletzt – grandiose Landschaften und unberührte Natur genießen.

Mit ihren Reiseberichten hier auf dem Mitglieder-Blog (immer am Freitag, wenn dies die Umstände zulassen) lässt uns Birgit Kanz teilhaben an ihren Erfahrungen, Begegnungen und wissenschaftlichen Erkenntnissen in den südlichsten Wäldern der Welt – und darüber hinaus.

#5 Vom Sammeln und Bestimmen

Puerto Williams, 31. Dezember 2021

Im Mittelpunkt seiner Reise nach Navarino steht für Christian die Erforschung der hiesigen Flechtenflora. Aktuell sind etwa 400 Arten auf der 2.473 Quadratkilometer großen Insel bekannt. Das ist nicht viel für ein Gebiet dieser Größe, das von Küstenfelsen über mehr oder weniger ungestörte Wälder und Moore bis zu hochandinen Felslandschaften die verschiedensten Ökosysteme umfasst. Hier ist deshalb Neues zu erwarten: neue Arten für die Insel und für die Wissenschaft! Ein kleiner Einblick.

Wahrscheinlich können sich die Wenigsten vorstellen, wie gering immer noch das Wissen über Flechten, ihre Artenzahl und Verbreitung ist. Fangen wir deshalb nicht auf Navarino an, sondern in der unmittelbaren Umgebung: Seit dem 18. Jahrhundert wird in Deutschland die Flechtenflora erforscht. Wirklich viele Lichenologen gab es nie, doch in den letzten Jahrzehnten ist das Interesse an diesen oft winzigen Organismen sukzessive gestiegen. Geschätzt 40 bis 50 Flechtenkundler*innen schwärmen Jahr für Jahr im Lande aus, erforschen, begutachten oder sammeln Arten im Gelände. Trotz dieser regen Tätigkeit werden noch immer alle paar Wochen neue Arten für Deutschland gemeldet – ganz offensichtlich ist selbst in einem der weltweit besterforschten Gebiete die Flechtenflora nicht vollständig erfasst. Gemessen daran sind Neufunde auf der Isla Navarina umso wahrscheinlicher, da bislang nur wenige Lichenolog*innen ihr Augenmerk auf dieses Gebiet gerichtet hatten.

Mit wie vielen Arten man hier auf Navarino rechnen kann, ist schwer zu sagen. Aber dass es erheblich mehr als 400 sein dürften, macht ein Vergleich klar. Im Rahmen seiner Diplomarbeit hat Christian seinerzeit die Flechten der Isles of Scilly im Südwesten Englands untersucht. Von der nur 2,97 Quadratkilometer großen Insel Tresco sind etwas mehr Arten bekannt als im Moment von Navarino. Ein Vergleich der Fläche, ganz abgesehen von der viel größeren ökologischen und geologischen Vielfalt Navarinos, deutet an, dass hier noch ziemlich viel im Verborgenen schlummern dürfte. Hinzu kommt, dass die Südspitze Südamerikas extrem dünn besiedelt und deswegen von Luftverschmutzung, Forst- und Landwirtschaft praktisch unberührt ist. Alle drei Faktoren haben in dichter besiedelten Gebieten vielen Flechten den Garaus gemacht. Und noch ein weiterer interessanter Aspekt dürfte die Region zu einem Diversitätszentrum machen: Neben nur aus Südamerika bekannten Arten finden sich hier auch in Australasien oder der Antarktis verbreitete und sogar einige ursprünglich nordhemisphärische Sippen.

Es ist klar, dass ein einzelner Flechtenkundler in drei Monaten nicht alles ans Licht bringen kann. Abgesehen von der begrenzten Zeit und „Manpower“ gibt es etliche Gründe, warum die vollständige Erfassung aller Flechtenarten selbst auf ziemlich kleinen Flächen grundsätzlich nie gelingt. Erstens sind Giganten wie die in meinem dritten Blogbeitrag vom 17. Dezember vorgestellten Nephroma- und Pseudocyphellaria-Arten unter Flechten eine kleine Minderheit (Abb. 6-9). Die meisten Arten muss man buchstäblich mit der Lupe suchen (Abb. 10). Da man nicht jeden einzelnen Baum oder jede Felsspalte absuchen kann, bestimmt bei den selteneren Arten oft auch der Zufall, ob sie aufgespürt werden oder nicht. Zweitens unterscheiden sich viele Flechtenarten nur in winzigen, oft mikroskopisch kleinen Merkmalen. Da bleibt manches unentdeckt, weil man fälschlich glaubt, die Art schon längst identifiziert zu haben. Dafür sammelt man dann anderes doppelt und dreifach, weil viele Arten auch sehr variabel sein können. Je weniger Erfahrung man mit der Flora eines Gebietes hat, desto schwieriger ist es, die Arten schon im Gelände sicher zu unterscheiden.

Vollständigkeit ist hier also leider ein unerreichbares Ideal. Aber für einen Wissenschaftler ist ja immer der Weg das Ziel und die wichtigste Frage deshalb, mit welcher Strategie man möglichst viele bisher unbekannte Arten aufspürt. Ist es besser, eine große Anzahl unterschiedlicher Habitate oder räumlich möglichst viele „Ecken“ der Insel abzusuchen? Und wie zwingt man sich zu einer genauen Vorgehensweise? Christian versucht es, wie mir scheint, mit einer Mischung aus Sonntagsspaziergängen, Meditation und Trekkingtouren. Um besondere Standorte wie Felsküsten, ehemalige Brandrodungsflächen oder alte Wälder zu erfassen, unternehmen wir Tagesexkursionen, auf denen der Rucksack sich schnell füllt, besonders wenn die Beute vom Felsen gemeißelt werden muss (Abb. 2-5).

An Standorten, die schon oberflächlich eine besonders große Vielfalt an Flechten zeigen, markiert Christian zusätzlich Flächen von 20 mal 20 Metern, die er dann systematisch absucht. Diese Flächen liegen in unterschiedlicher Höhe zwischen Puerto Williams und seinem „Hausberg“ Cerro Bandera, so dass zwischen der Küste und der andinen Gipfelregion die verschiedensten Lebensräume abgedeckt sind. Hier wird es dann für die Blütenpflanzenbotanikerin etwas zu meditativ: stundenlang (im ersten Plot genau acht …) werden erst der Waldboden, dann Stämme und das überall herumliegende und stehende Totholz mit der Lupe beäugt. Besonders auf Holz sind viele Neufunde zu erwarten, da es je nach Verwitterungszustand den unterschiedlichsten Arten Lebensraum bietet. Der dritte Teil der „Strategie“, die Wandertouren in bisher unerforschte Teile der Insel, soll nächste Woche beginnen, zunächst in die Montes Miseria im Osten, Führer und Träger inklusive. Weitere Touren in die Moorlandschaften im Süden der Insel und den zentralen Gebirgszug der Montes Lindenmayer sind geplant. Mit dieser Mischmethode sollte es gelingen, das Spektrum der bekannten Arten zu erweitern und eine Vorstellung davon zu bekommen, wo und wie zukünftig noch nachgearbeitet werden muss. Wie gesagt, der Weg ist das Ziel…

Wenn möglich, sammelt Christian übrigens genug Material, um einen Teil als Beleg an der Uni in Punta Arenas zu belassen, als Grundlage für das hiesige Programm zum Erhalt der biologischen Diversität (siehe Blogbeitrag #2 vom 10.12.). Der andere Teil wird im Herbarium in Frankfurt archiviert. Hier wie dort stehen die Belege dann zum Vergleich oder für chemische und molekulare Nachuntersuchungen und natürlich als Grundlage für Neubeschreibungen zur Verfügung. Das Sammeln stellt den kleinsten Teil von Christians Arbeit dar. Da Flechten wie alle anderen Organismen bedauerlicherweise keine Namensschilder um den Hals tragen, rückt er ihnen in den Tagen nach unseren Exkursionen mit Rasierklingen, Mikroskop und verschiedenen Chemikalien zu Leibe. In den Gruppen, mit denen er sich gut auskennt, kommt da regelmäßig Neues auf die Artenliste. Andere Gruppen wandern nach längerem Hin und Her meist nur vorläufig bestimmt zurück in die Kisten. Die Bestimmungsliteratur, wenn es sie denn überhaupt gibt, beschränkt sich oft auf kleinere und vorläufige Arbeiten, die zum Teil veraltet sind. Da ist es oft schwierig, einen Namen zu finden, besonders, wenn man immer darauf gefasst sein muss, dass etwas neu für die Gegend oder gar die Wissenschaft ist. Das wird also in Zukunft noch Arbeit machen, aber wie schon mehrfach gesagt, der Weg…

Abb. 1
Abb. 1 Nephroma antarctica als Tannenbaum – Weihnachten im südhemisphärischen Sommer
Abb. 2
Abb. 2 Küstenfelsen sind meist schön gefärbt, aber auf dem Heimweg schwer zu tragen.
Abb. 3
Abb. 3 Die strauchige Ramalina terebrata findet sich auch in der Antarktis.
Abb. 4
Abb. 4 Ebenso Haematomma erythromma und Ochrolechia antarctica.
Abb. 5
Abb. 5 Die orangegelbe Gondwania sublobulata und ihre Verwandtschaft färben die Küstenfelsen weithin sichtbar.
Abb. 6
Abb. 6 Plasmatia glauca ist auch bei uns in Deutschland nicht selten.
Abb. 7
Abb. 7 Nephroma antarcticum, ein Riese unter den Flechten, trägt die Fruchtkörper auf der Unterseite des Thallus…
Abb. 8
Abb. 8 … ihre weitläufige Verwandte Podostictina endochrysa dagegen ganz konventionell auf der Oberseite.
Abb. 9
Abb. 9 Pseudocyphellaria faveolata (rechts) ist auf Navarino eine Seltenheit.
Abb. 10
Abb. 10 Klein aber fein: Eine bisher unbeschriebene Art der Gattung Biatora. Die braunen Fruchtkörper sind ca. 0,5 mm groß. Bisher sind nur drei Arten dieser weitgehend nordhemisphärischen Gattung aus Südamerika bekannt.
Abb. 11
Abb. 11 Arten der Gattung Cladonia kommen weltweit vor und finden sich auf Navarino in alle Höhenstufen, hier auf Waldboden.
Abb. 12
Abb. 12 Cladonia in der hochandinen Zone.
Abb. 13
Abb. 13 Usnea aurantiacoatra und Usnea trachycarpa dominieren die Felsvegetation in der hochandinen Zone. Beide Arten kommen auch in der Antarktis vor. Im Hintergrund die “Dientes de Navarino”.
Abb. 14
Abb. 14 Selbst für Lichenologen schwer zu sagen, was hier schöner ist: Die Orchidee Codonorchis lessonii (“Palomita”) oder das Bett aus Laubflechten, auf dem sie wächst.
Abb. 15
Abb. 15 Weder Arbeitspensum noch Zentnerlast drücken die Stimmung. Woher hat die Bartflechte noch gleich ihren Namen?