Improvisierter Speisesaal: Kein warmes Wasser, keine Heizung. Da ist die von Javier und Raúl zubereitete warme Mahlzeit am Abend umso willkommener.

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#9: Zu den südlichsten Wäldern der Welt … und darüber hinaus

Ein Reisebericht von Dr. Christian Printzen

Dr. Christian Printzen und Dr. Birgit Kanz, Wissenschaftler*innen vom Senckenberg Forschungsinstitut Frankfurt, sind unterwegs nach Puerto Williams am südlichsten Zipfel Feuerlands. Sie wollen auf der chilenischen Isla Navarino die Biodiversität der Flechten und Pflanzen erforschen und – nicht zuletzt – grandiose Landschaften und unberührte Natur genießen.

Mit ihren Reiseberichten hier auf dem Mitglieder-Blog (immer am Freitag, wenn dies die Umstände zulassen) ließ uns Birgit Kanz teilhaben an ihren Erfahrungen, Begegnungen und wissenschaftlichen Erkenntnissen in den südlichsten Wäldern der Welt – und darüber hinaus.

Nach ihrer Rückkehr nach Deutschland geht unser Reiseblog trotzdem noch ein wenig weiter, denn  Christian Printzen berichtet jetzt von seinen Abenteuern in Südamerika.

#9 Ernüchterung am Ende der Welt

28.1.2022

Nicht nur das Reisen, sondern auch das bloße „Dasein“ ist in Zeiten der Covid-Pandemie nicht immer einfach. Was fängt man zum Beispiel mit sich an, wenn man vor der Abreise aus Deutschland noch keine Booster-Impfung bekommen konnte, in Chile als Ausländer*in nicht geimpft wird, nun aber plötzlich nur noch dreifach Geimpfte Zugang zum öffentlichen Leben haben? Man kann zwar hoffen, dass es die Restaurants nicht so genau nehmen. Bei den Fluggesellschaften hört der Spaß dann aber auf; als einziger Ausweg bleibt ein negativer PCR-Test. Obwohl Birgits Flug von Punta Arenas erst am 23.1. startete, musste sie bereits vier Tage vorher den Heimweg antreten, damit genug Zeit für diesen Test und die Übermittlung des hoffentlich negativen Ergebnisses blieb. Diesen Puffer mussten wir auf dem Hinflug zwar auch schon einplanen, aber jetzt wurde es noch einmal spannend, denn hier werden im Augenblick die Testkapazitäten knapp. Mit Fernhilfe unserer neuen Bekannten in Puerto Williams, die immer neue Testzentren ausfindig machten, war Birgit zum Glück im dritten Anlauf nach stundenlangem Anstehen erfolgreich. Auch die Klippen der digitalen Verwaltung konnten umschifft werden. Da sie als Ausländerin keine chilenische Sozialversicherungsnummer hat, wurde ihr das Ergebnis am nächsten Tag kurzerhand per E-Mail mitgeteilt.

Birgit ist also auf dem Rückweg nach Deutschland. Da ich noch einen Monat länger bleibe, kann ich unsere Reiseerzählung noch ein wenig fortführen. Von den beschriebenen Widrigkeiten hatte ich zunächst überhaupt nichts mitbekommen – ich konnte mich kurzfristig der schon im letzten Beitrag erwähnten Gruppe amerikanischer Student*innen anschließen, die für eine Woche ihre zoologischen Studien in der Bucht von Yendegaia (Abb. 1) weiterführten. Als Fortsetzung eines Gletschertals befindet sich diese Bucht an der Nordseite des Beagle-Kanals, einige Kilometer westlich der chilenisch-argentinischen Grenze auf der Isla Grande de Tierra del Fuego und gibt dem Yendegaia-Nationalpark seinen Namen. Das 2016 ausgewiesene Gebiet ist einer von derzeit 41 Nationalparks im Lande. Allein in den beiden südlichsten Regionen Chiles, Aysén und Magallanes, umfassen diese fast 110.000 Quadratkilometer, mehr als die gemeinsame Fläche Bayerns und Baden-Württembergs. Meine Erwartungen an die Flechtenflora waren dementsprechend hoch.

Am 15. Januar nahmen wir also die Fähre von Puerto Williams nach Punta Arenas. Diese steuert nach etwa fünf Stunden als einzigen Zwischenhalt Yendegaia an, um diesen in der Bucht stationierten Vorposten der Carabineros de Chile zu versorgen, der auf dem Landweg bisher nicht erreichbar ist. Die etwa ein Dutzend Mann, Frau und Kind starke Truppe gewährte uns in ihrem ehemaligen, nicht mehr genutzten Gebäude Unterkunft (Abb. 2). Heizung und warmes Wasser gab es nicht. Bei den in den ersten beiden Tagen herrschenden Temperaturen zwischen 3 und 9 Grad brauchte man deshalb mal wieder einen guten Schlafsack, um es wenigstens nachts warm zu haben. Verpflegung, Wasser, eine Feldküche, Vogelfangnetze, Malaisefallen sowie ein großes Zelt für die ornithologischen „Laborarbeiten“ (Abb. 4) waren von unseren Begleitern Javier Estay und Omar Barroso samt Gasflaschen und Benzinkanistern im Pickup verstaut auf die Fähre gebracht worden. So war für alles gesorgt und wir konnten uns ganz unseren verschiedenen Forschungsarbeiten widmen – die meisten den Vögeln und Fledermäusen, Roy Mackenzie von der Universidad Magallanes und ich den Moosen und Flechten.

Der erste Tag begann für uns mit einer Ernüchterung. Seit 1994 wird an einer Verlängerung der „Carretera Austral“ gebaut, die Yendegaia mit dem chilenischen Straßennetz verbinden soll. Das hinterlässt unübersehbare Spuren in der Landschaft (Abb. 5), ist aber nur ein kleines ökologisches Problem von vielen. Neben alten Bekannten, den Pferden und Bibern (Abb. 6), gibt es hier europäische Kaninchen, die vielerorts sogar die Vegetation in Waldlichtungen zu einem kurzgeschorenen Rasen reduzieren (Abb. 7). Die wegen ihres Fleisches eingeführten Tiere hatten sich aufgrund ihrer Fortpflanzungsfreude Mitte des 20. Jahrhunderts zu einer echten Gefahr für die Landwirtschaft auf Tierra del Fuego entwickelt. Obwohl sie durch Einführung des Myxomatosevirus und ein Verbot der Bejagung des Patagonischen Fuchses zurückgedrängt wurden, gibt es sie zumindest in Yendegaia nach wie vor in größerer Zahl, als der natürlichen Vegetation gut tut. Flechten gab es trotzdem reichlich. Zumindest erdbewohnende Arten profitieren wahrscheinlich sogar vom Kahlfraß. Auf Felsen und Erde in der von kleinen Sträuchern dominierten heideartigen Landschaft fanden sich die unterschiedlichsten Arten, zum Beispiel aus der Gattung der Rentierflechten (Cladonia, Abb. 8). Und an Küstenfelsen wächst ohnehin immer eine bunte Mischung von Flechten (Abb. 9).

In den nächsten Tagen erlebten wir, wie die Zerstörung der Wälder die Geländearbeit behindern kann. Wo Biber und Kühe „kooperiert“ hatten, quälten Roy und ich uns durch Waldlichtungen, in denen auf einem tückischen Untergrund von kreuz und quer liegenden Stämmen und Ästen eine fast undurchdringliche und ungemein kratzbürstige Strauchschicht wächst. Wo der Wald von Feuer zerstört wurde, wächst er in Form dichter Büschel dünner Stämmchen aus nicht zerstörten Wurzeln nach, was das Fortkommen ebenfalls erschwert. Ein Ausflug in den nordwestlichen Teil der Bucht zeigte dann noch einmal nachdrücklich, dass Umweltzerstörung handfeste praktische und finanzielle Konsequenzen haben kann:

Im Laufe der Woche war es nach und nach wärmer geworden; man konnte praktisch zusehen, wie die anfänglich noch dichte Schneedecke in den Hochlagen (Abb. 1 und 10) schmolz. Auf dem abendlichen Rückweg von unserer Tour war die noch nicht asphaltierte neue Straße von herabstürzenden Wasserfluten überspült worden und für Autos nicht mehr passierbar (Abb. 11). Das wäre vermutlich nicht passiert, wenn der über der Schadensstelle liegende Hang nicht völlig entwaldet wäre (Abb. 12).

Die Student*innen verließen uns bereits am Mittwoch. Deshalb wurden wir vor deren Abreise von den Carabineros zuerst zu einem mittäglichen Asado, einem Grillfest mit enormen Mengen Fleisch und Würsten, und danach zu einem Fußballspiel eingeladen, dessen Qualität nicht ganz Champions-League-Format hatte, aber dafür vor einer Kulisse stattfand, mit der selbst die gelbe Wand im Westfalenstadion nicht mithalten kann (Abb. 13). Für Omar, seinen Sohn Raúl und mich bedeutete die Abreise einen Umzug in das „Hauptgebäude“, in dem wir nun auch endlich Heizung und warmes Wasser zum Duschen hatten. Allerdings war es mittlerweile derart warm geworden, dass wir beides gar nicht mehr brauchten. Für meine Ausbeute an Flechten war das hervorragend, denn an ihrem neuen Ort trockneten sie schneller als in der etwas klammen vorherigen Unterkunft. Am Donnerstag brachte mich dann ein freundlicher Polizist mithilfe eines ATV oder Quad (Abb. 14) ans Ende des Tals hinter der Polizeistation. Obwohl er für seine Verhältnisse sicherlich sehr vorsichtig fuhr, hatte ich auf dem Rücksitz alle Hände voll damit zu tun, meinen Rucksack auf dem haarsträubend schlechten Trampelpfad nicht zu verlieren und mich im abschüssigen Gelände auf dem Sitz zu halten. Hinter einem ausgetrockneten Biberteich lockte ein letzter Altwaldbestand, der tatsächlich noch viele der hier typischen Waldarten aus den Gattungen Pseudocyphellaria und Pannaria beherbergte, obwohl auch er sichtbar unter Plenterwirtschaft und Feuer gelitten hat. Ein Versuch, am letzten Tag den nächstgelegenen Gipfel zu erreichen, um auch noch die andine Zone um Yendegaia zu erkunden, kam im weglosen Gelände an einer Felswand unterhalb der Baumgrenze zum Ende, da ich diese in der verbleibenden Zeit nicht mehr umgehen konnte. Nach einem letzten Abendessen mit unseren Gastgeber*innen nahmen wir, beladen mit mehr als 300 Flechtenbelegen, die um kurz nach 20 Uhr einlaufende Fähre zurück nach Puerto Williams (Abb. 15).

Blick aus der Bahía Yendegaia nach Süden auf den Beagle Kanal und die gegenüberliegende Insel Hoste. Das grüne Gletscherwasser des Rio Yendegaia mischt sich mit dem dunkleren Meerwasser; in den Hochlagen hat es geschneit.
Abb. 1 Blick aus der Bahía Yendegaia nach Süden auf den Beagle Kanal und die gegenüberliegende Insel Hoste. Das grüne Gletscherwasser des Rio Yendegaia mischt sich mit dem dunkleren Meerwasser; in den Hochlagen hat es geschneit.
Links das neue, rechts das alte Gebäude der Carabineros, unsere Unterkunft.
Abb. 2 Links das neue, rechts das alte Gebäude der Carabineros, unsere Unterkunft.
Improvisierter Speisesaal: Kein warmes Wasser, keine Heizung. Da ist die von Javier und Raúl zubereitete warme Mahlzeit am Abend umso willkommener.
Abb. 3 Improvisierter Speisesaal: Kein warmes Wasser, keine Heizung. Da ist die von Javier und Raúl zubereitete warme Mahlzeit am Abend umso willkommener.
Testzentrum für Vögel und Fledermäuse: Die zoologischen Untersuchungen erfordern trockene Arbeitsbedingungen auch bei schlechtem Wetter.
Abb. 4 Testzentrum für Vögel und Fledermäuse: Die zoologischen Untersuchungen erfordern trockene Arbeitsbedingungen auch bei schlechtem Wetter.
Bauarbeiten an einem der letzten Teilstücke der Landstraße, die Yendegaia ab 2026 ans chilenische Straßennetz anschließen soll.
Abb. 5 Bauarbeiten an einem der letzten Teilstücke der Landstraße, die Yendegaia ab 2026 ans chilenische Straßennetz anschließen soll.
Im Talgrund reihen sich Biberdämme aneinander. Der natürliche Wald ist hier zerstört. An den Hängen haben Beweidung, Holzeinschlag und Feuer ihre Spuren hinterlassen.
Abb. 6 Im Talgrund reihen sich Biberdämme aneinander. Der natürliche Wald ist hier zerstört. An den Hängen haben Beweidung, Holzeinschlag und Feuer ihre Spuren hinterlassen.
Kaninchen in der Abendsonne vor ihrem ausgedehnten Bau. Sie stutzen die überall an gestörten Stellen vorkommenden europäischen Wiesenarten zu einem englischen Rasen.
Abb. 7 Kaninchen in der Abendsonne vor ihrem ausgedehnten Bau. Sie stutzen die überall an gestörten Stellen vorkommenden europäischen Wiesenarten zu einem englischen Rasen.
Manche Arten der Flechtengattung Cladonia zeichnen sich durch auffällig rot gefärbte Fruchtkörper aus.
Abb. 8 Manche Arten der Flechtengattung Cladonia zeichnen sich durch auffällig rot gefärbte Fruchtkörper aus.
Farbenfrohes Spektakel: An Küstenfelsen finden sich immer artenreiche Flechtengemeinschaften ein.
Abb. 9 Farbenfrohes Spektakel: An Küstenfelsen finden sich immer artenreiche Flechtengemeinschaften ein.
Zum Abschied sommerliche Hitzewelle bei fast völliger Windstille. Der Schnee ist bis auf wenige Reste geschmolzen ...
Abb. 10 Zum Abschied sommerliche Hitzewelle bei fast völliger Windstille. Der Schnee ist bis auf wenige Reste geschmolzen …
...und hat dabei einen Teil der neuen Straße mitgenommen.
Abb. 11 …und hat dabei einen Teil der neuen Straße mitgenommen.
Mitverantwortlich dafür ist wahrscheinlich die fast völlige Entwaldung des Hanges oberhalb der Straße.
Abb. 12 Mitverantwortlich dafür ist wahrscheinlich die fast völlige Entwaldung des Hanges oberhalb der Straße.
Das abschließende Fußballspiel der Carabineros gegen die von Carabineros unterstützten Gäste. Die Spielqualität ist nicht ganz wie in der Champions League, aber die Kulisse ist spektakulär!
Abb. 13 Das abschließende Fußballspiel der Carabineros gegen die von Carabineros unterstützten Gäste. Die Spielqualität ist nicht ganz wie in der Champions League, aber die Kulisse ist spektakulär!
Dieses kuriose Gefährt beschleunigt zwar die Anreise zur eigentlichen Geländearbeit, macht sie aber auf schlecht gepflegten Forstwegen in abschüssigem Terrain nicht unbedingt angenehmer.
Abb. 14 Dieses kuriose Gefährt beschleunigt zwar die Anreise zur eigentlichen Geländearbeit, macht sie aber auf schlecht gepflegten Forstwegen in abschüssigem Terrain nicht unbedingt angenehmer.
Abschied: Die Fähre läuft in die Bucht ein.
Abb. 15 Abschied: Die Fähre läuft in die Bucht ein.