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Medizin aus dem Meer
Wissenschaftler*innen möchten Potential natürlicher Heilmittel besser ausschöpfen
Senckenberg-Wissenschaftlerin Julia Sigwart hat gemeinsam mit einem internationalen Team Vorschläge formuliert, um das Potential mariner Naturstoffe für die Produktion von medizinischen Wirkstoffen besser nutzen zu können. Die Forschenden zeigen in einem kürzlich erschienenen Kommentar im Fachjournal „Natural Product Reports“ die Bedeutung von Meeresorganismen für die Medizin. Sie fordern eine Verschlankung der wissenschaftlichen Prozesse, um potentielle Heilmittel schneller identifizieren zu können.
Der zugelassene Wirkstoff Vidarabine® stammt ursprünglich aus dem Meeresschwamm Tectitethya crypta. Das Fischgift Curianol wird in der Herzchirurgie eingesetzt. Und die Biolumnieszenz der Qualle Aequorea victoria machen sich Mediziner*innen weltweit als sogenanntes Reportergen zunutze.
„Naturstoffe stellen seit jeher eine bedeutende Quelle an Arzneistoffen zur Behandlung von menschlichen Krankheiten dar – etwa die Hälfte der eingesetzten Medikamente, darunter Antibiotika und Wirkstoffe gegen Krebs, stammen aus der Natur“, erklärt Dr. Julia Sigwart vom Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum Frankfurt und fährt fort: „Dabei basiert die Mehrzahl dieser Arzneistoffe auf Inhaltsstoffen aus Pflanzen und aus Mikroorganismen, die zumeist aus Bodenproben stammen. Die Ozeane, die mehr als zwei Drittel der Erdoberfläche bedecken, spielen bislang aber nur eine untergeordnete Rolle.“
Das marine Potential sei nicht ausgeschöpft, so schreibt es ein Team rund um die Frankfurter Meeresbiologin in einem kürzlich im Fachjournal „Natural Product Reports“ erschienenen Kommentar. Und das obwohl marine Stoffe im medizinischen Vergleich nachweislich viermal wirksamer seien, als Naturstoffe vom Land. „Das Leben in den Ozeanen existiert seit etwa 3,7 Milliarden Jahren, dreimal so lange wie auf dem Festland. Die Vielfalt der marinen Organismen ist demnach ungleich höher – etwa 90 Prozent der Meereslebewesen gelten nach wie vor als unbeschrieben“, ergänzt Sigwart.
Diesen Missstand möchten Sigwart und Co gerne beenden – hierfür haben die Forschenden fünf Lösungsansätze entwickelt: Sie plädieren erstens für eine Investition in die Grundlagenforschung – auch wenn eine Verbindung in die Industrie nicht unmittelbar erkennbar ist. Im zweiten Schritt soll die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Industrie gleichberechtigter werden. Nachwuchsforscher*innen sollten unterstützt werden auch wenig erforschte Organismen und Lebensräumen zu studieren – hier sieht das Team das höchste Potential für spannende medizinische Neuentdeckungen. Als vierten Punkt nennen die Wissenschaftler*innen den Datenaustausch mit globalen Netzwerken. „Der fünfte Baustein ist der umfassende Schutz der biologischen und genetischen Vielfalt in den Ozeanen – durch einen Verlust der marinen Biodiversität verlieren wir auch potentielle Heilmittel, die für unser aller Wohlergehen wichtig sein könnten“, resümiert Sigwart.