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Wenn der Wurm zum Giftschlag ausholt
Die Erforschung einheimischer Schnurwürmer gibt Einblick in die evolutionäre Entwicklung und wirtschaftliche Nutzung von Tiergiften
Würmer sind den meisten Menschen als nützliche Regenwürmer oder lästige Parasiten geläufig. Schnurwürmer (Nemertinen) hingegen sind weitgehend unbekannt – obwohl sie einen Weltrekord halten: Die Lange Nemertine (Lineus longissimus) gilt mit bis zu 60 Metern Gesamtlänge als das längste Tier der Welt. Weitere Besonderheiten der überwiegend im Meer lebenden Schnurwürmer sind ihr Rüssel, den sie für die Jagd oder zur Erkundung der Umgebung ausstülpen können, und ihre Eigenschaft, Gifte zu produzieren. Diesen Giftcocktail haben Forscher*innen nun in einem Verbundprojekt des LOEWE-Zentrums für Translationale Biodiversitätsgenomik (TBG) detailliert untersucht. Ihre Ergebnisse publizierte das Team kürzlich in der Fachzeitschrift „Marine Drugs“.
Seine Gifte gibt der Schnurwurm einerseits passiv über die Haut ab, vermutlich um sich vor Fressfeinden zu schützen; andererseits setzt er sie auch aktiv ein, um Beutetiere zu lähmen und zu töten. Dabei unterscheiden sich die Arten unter anderem in der Ausstattung ihres Rüssels. „Der in Deutschland heimische Milchweiße Schnurwurm hat eine Spitze an seinem Rüssel, die wie ein Stilett aussieht. Stülpt der Schnurwurm seinen Rüssel aus, durchschlägt die Spitze regelrecht die Haut seines Beutetiers, und das Gift dringt ein“, erläutert Dr. Maria Nilsson-Janke, Wissenschaftlerin am LOEWE-Zentrum für Translationale Biodiversitätsgenomik und am Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrum. Anhand der Genome erforscht sie die Evolution dieser bisher wenig untersuchten Wurmgruppe, den so genannten Hoplonemertinen. „Andere Arten besitzen hingegen nur einen unbewaffneten Rüssel – das bedeutet aber nicht, dass sie ungefährlich sind“, betont Projektleiter Dr. Björn von Reumont vom Institut für Insektenbiotechnologie an der Justus-Liebig-Universität Gießen. „Für diese Arten sind bisher nur einzelne Giftbestandteile, sogenannte Toxine, aus dem Hautschleim bekannt; diese zeigen jedoch eine große Wirkung auf Insekten und Krebse. Eines dieser Toxine wird sogar als mögliches Bioinsektizid weiter erforscht – also als Pflanzenschutzmittel, das wirksam ist gegen Schädlinge, aber nützliche Insekten schont.“Beim Vergleich der jeweiligen Anatomie und Beschaffenheit der Gifte stießen die Forscher*innen auf weitere Unterschiede, die auf voneinander abweichende evolutionäre Entwicklungen hindeuten. „Der stärker ausgeklügelte Giftapparat – also Einsatz eines panzerbrechenden Rüssels beim Jagen – beim Milchweißen Schnurwurm weist eine andere Zusammensetzung des Giftcocktails auf als bei den anderen Arten“, berichtet Tim Lüddecke, Doktorand des Fraunhofer Instituts für Molekularbiologie und Angewandte Ökologie in Gießen. „Offensichtlich gab es also im Laufe der Evolution eine eigenständige Entwicklung, die entweder durch Herausbildung des bewaffneten Rüssels oder Giftanpassung an die Beutetiere erfolgte.“ Vergleichende molekularbiologische und biochemische Analysen sowohl des Rüsselgewebes als auch des Schleims dieser Schnurwurmart mit dem lateinischen Namen Amphiporus lactifloreus zeigten Ähnlichkeiten zu Toxinen aus erdgeschichtlich altertümlichen Tiergruppen wie Dornkronenseesternen und Nesseltieren, die ebenfalls über Stacheln oder Nesselfäden hochgiftige Stoffe in ihre Opfer injizieren.
Die Forschungsergebnisse weisen darüber hinaus darauf hin, dass in den verschiedenen Arten der Schnurwürmer vermutlich bisher nicht erfasste Toxine aus der Gruppe der sogenannten Knottine vorkommen. „Dies sind kleine Proteine, die sich sehr stabil zusammenfalten können und damit in der Lage sind, mit Ionenkanälen zu interagieren. Dadurch können sie als Nervengifte wirken. Solche Toxine kommen in vielen Tiergruppen vor, die von uns zum Teil auch erforscht werden, darunter Spinnen, Raubwanzen, Raubfliegen und giftige Krebstiere. Daher können wir diese Toxinfamilie gut vergleichen“, so von Reumont. „Unser Ziel ist es, die Evolution der Giftproteine in Schnurwürmern umfassend nachzuvollziehen. Dafür wollen wir unsere bisherigen Ergebnisse mit der Analyse der Genomdaten mehrerer Arten verknüpfen. Parallel arbeiten wir daran, die Wirkungsweise und auch das Potenzial für mögliche pharmakologische und agrochemische Anwendungen einzelner Toxine der Schnurwürmer zu untersuchen.“