Regenwald
Nicht mehr natürliche, sondern gesellschaftliche Prozesse sind die treibende Kraft auf der Erde. Im Bild: Illegale Waldrodung im Amazonas-Gebiet/Brasilien.

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Anthropocene Biodiversity Challenges

Über die Notwendigkeit einer sozial-ökologischen Biodiversitätsforschung


Der ungebremste Verlust der Artenvielfalt zählt zu den größten globalen Umweltproblemen. Trotz einer Vielzahl nationaler und internationaler Initiativen greifen die bisherigen Anstrengungen zu kurz. Die Debatte um die Erhaltung der biologischen Vielfalt muss sich neuen Bezugspunkten zuwenden: dem Zusammenwirken von gesellschaftlichen Prozessen und Biodiversitätsveränderungen.

Vor zwanzig Jahren prägte der niederländische Chemiker und Nobelpreisträger Paul Crutzen den Begriff ‚Anthropozän‘. Für ihn war augenscheinlich, dass die Menschheit drastisch in die großen biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse eingreift: Nicht mehr natürliche, sondern gesellschaftliche Prozesse sind die treibende Kraft auf der Erde. Damit endet das fast 12 000 Jahre währende Holozän. Noch streiten Wissenschaftler*innen darüber, was genau das neue Zeitalter markiert. Unstrittig ist hingegen, dass die Spuren, die die Menschheit auf der Erde hinterlässt, sie selbst vor immer größere Herausforderungen stellt. Die Klimakrise, Wasserknappheit oder auch das Artensterben markieren hier lediglich die augenscheinlichsten Veränderungen. Aber wie wirken solche isoliert wahrnehmbaren Phänomene zusammen? Ergeben sich ganz andere Krisenbeschreibungen, wenn wir natürliche Prozesse und gesellschaftliches Handeln als aufs Engste miteinander verwoben betrachten?

Neue Aufgaben der Wissenschaft

Diese Diagnose des Anthropozäns als Zeitalter hat weitreichende Folgen – auch für die Wissenschaft. Erste Konturen einer „Wissenschaft im Anthropozän“ zeichnen sich bereits ab: Wo menschliches Handeln für biogeophysikalische Prozesse bestimmend ist, müssen Natur-, Technik-, Sozial- und Geisteswissenschaften immer enger zusammenarbeiten. Wissenschaft muss auch klären, welche Rolle sie dabei spielt(e), dass die Menschheit zu einer geologischen Kraft geworden ist, und welche neuen Aufgaben zur Gestaltung dieser Kräfte damit auf sie zukommen. Wissenschaft wird mehr denn je als kritische Instanz gefragt sein. Sie muss sich neuen Formen des Dialogs mit der Gesellschaft öffnen, wie auch Gesellschaft neue Formen der Teilhabe am wissenschaftlichen Erkenntnisprozess umsetzen muss. Ein Punkt ist zentral: Die Aufgabe von Wissenschaft kann nicht mehr nur darin bestehen, neues Wissen zu erzeugen oder durch Hinweise auf Fehlentwicklungen Kritik zu üben. Vielmehr muss sich Wissenschaft stärker als bislang Gestaltungsfragen und -möglichkeiten zuwenden und dabei anerkennen, dass wir die gesellschaftliche Entwicklung nur begrenzt steuern können (Jahn et al. 2020).

NFM Band 150, Heft 7-9 2020
Konzept sozial­ökologischer Systeme für eine sozial­ökologische Biodiversitätsforschung: Im Anthropozän löst sich die vermeintliche Trennung von Natur und Gesellschaft auf. Die Gesellschaft ist
integraler Teil der Natur, wie umgekehrt Natur nicht mehr ohne Gesellschaft verstanden werden kann. Gesellschaft und Natur sind auf bedrohliche Weise in eine krisenhafte Beziehung geraten (Abb. nach Mehring et al. 2017).

Klassische Trennung von Gesellschaft und Natur löst sich auf

Auch wenn es den Anschein hat, dass das Artensterben auf der aktuellen weltpolitischen Agenda in den Hintergrund gerückt ist – die Brisanz des Themas steigt. Trotz einer Vielzahl nationaler und internationaler Initiativen sowie Programmen, die wir seit nunmehr drei Jahrzehnten ins Leben gerufen haben, ist es offenkundig, dass wir es mit unseren bisherigen Anstrengungen nicht schaffen werden, die biologische Vielfalt zu erhalten (IPBES 2019, BfN 2019). Das Anthropozän macht deutlich, dass nicht mehr klar zwischen „natürlich“ und „vom Menschen geprägt“ unterschieden werden kann. Die Referenz, was wir als Natur oder natürlich bezeichnen und verstehen, löst sich im Anthropozän auf. Dies hat Konsequenzen, wenn wir über den Schutz von Biodiversität sprechen: Welche Biodiversität soll weiterhin geschützt werden? Bisher hat sich der fast unstillbare Bedarf an Ressourcen für Produktion und Konsum vor allem im globalen Norden darauf verlassen, dass es anderswo unberührte Flecken gibt, die ausreichend Ressourcen liefern oder Reserven für die Natur sind (z. B. das Amazonasgebiet). Diese Annahme ist nicht länger gültig. Es stellt sich daher dringender denn je die Frage, inwieweit unsere bisherigen Konzepte des Biodiversitätsschutzes (weiterhin) erfolgreich sein können, wenn sich Mikroplastik selbst in den entlegensten Regionen der Erde findet, wenn Arten sich in Gebieten ausbreiten, in denen sie vorher nicht heimisch waren oder sogar Schutzgebiete massive Verluste von Tier-und Pflanzenarten zu verzeichnen haben. 

Angesichts dieser Entwicklungen muss sich die Debatte um die Erhaltung der biologischen Vielfalt neuen Bezugspunkten zuwenden. Im Anthropozän löst sich die vermeintliche Trennung von Natur und Gesellschaft auf: Die Gesellschaft ist integraler Teil der Natur, wie umgekehrt Natur nicht mehr ohne Gesellschaft verstanden werden kann. Gesellschaft und Natur sind auf bedrohliche Weise in eine krisenhafte Beziehung geraten.

Sozial-ökologische Biodiversitätsforschung notwendig

Die Biodiversitätsforschung von heute muss dieses „In-Beziehung-Setzen“ in den Fokus nehmen. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, über naturwissenschaftliche Ansätze hinaus Biodiversität breiter zu fassen: Der gesellschaftspolitische Auftrag, der eng verbunden ist mit der Genese des Begriffs ‚biologische Vielfalt‘ (Erhaltung der Vielfalt des Lebens), muss in die Biodiversitätsforschung des Anthropozäns aufgenommen werden. Um den globalen Verlust der biologischen Vielfalt einzudämmen, muss die Biodiversitätsforschung die komplexen Beziehungen zwischen Natur und Gesellschaft und den gesellschaftlichen Umgang damit in ihren Fokus nehmen (Jahn et al. 2015). Dabei gilt es, die Muster in den Interaktionen zwischen Biodiversität und Gesellschaft zu erkennen und ihre Wechselwirkungen zu verstehen. Gerade hier bestehen noch große Wissenslücken (Mehring et al. 2017). Wichtige Fragen einer solchen sozial-ökologischen Biodiversitätsforschung sind: Was verstehen wir künftig unter „Natur“ oder „natürlich“? Welche Natur wollen wir (weiterhin) schützen? Wie muss Biodiversitätsschutz neu gedacht werden? Wie lassen sich bisherige Maßnahmen und Konzepte des Biodiversitätsschutzes auf die sich ändernden Bedingungen, zum Beispiel die klimabedingten Änderungen der Biodiversität, anpassen? Wie gehen wir damit um, dass es keine „one-fits-all solution“ mehr gibt? Schließlich muss diese sozial-ökologische Biodiversitätsforschung die oben skizzierte Gestaltungsaufgabe annehmen, sich also einerseits auf die gesellschaftliche Forderung nach dem aktiven Einbringen in politische Prozesse und nach der Vermittlung in strittigen Fragen einlassen. Damit trägt Forschung andererseits der Tatsache Rechnung, dass Wissenschaft sich als Teil des Problems und der Lösung sehen und die Position eines beobachtenden Teilnehmers einnehmen sollte. Darüber hinaus bedarf es einer Forschung, die in der Lage ist, Integration ins Zentrum ihres Tuns zu stellen, und dies auch einfordert. Und schließlich gilt es, die „anthropocene biodiversity challenges“ aufzunehmen und sich im Wesentlichen auf sozial-ökologische Strukturen und Prozesse innerhalb sozial-ökologischer Systeme, also der Wechselbeziehung von Natur und Gesellschaft, zu fokussieren (siehe Abb. oben). Damit sind die Grundlagen für die Zusammenarbeit der Disziplinen und auch für die Einbeziehung der Bevölkerung geschaffen, ohne die wir die Herausforderungen des Biodiversitätswandels nicht bewältigen können.

Literatur

BfN – Bundeamt für Naturschutz (2019): Nationaler Bericht 2019 gemäß FFH-Richtlinie. Online Bericht unter https://www.bfn.de/themen/natura-2000/berichte-monitoring/nationaler-ffh- bericht.html (zuletzt geprüft am 6. Mai 2020)

IPBES (2019): Summary for policymakers of the global assessment report on biodiversity and ecosystem services of the Intergovernmental Science -Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services. Díaz, S., J. Settele, E. S. Brondízio E.S., H. T. Ngo, M. Guèze, J. Agard, A. Arneth, P. Balvanera, K. A. Brauman, S. H. M. Butchart, K. M. A. Chan, L. A. Garibaldi, K. Ichii, J. Liu, S. M. Subramanian, G. F. Midgley, P. Miloslavich, Z. Molnár, D. Obura, A. Pfaff, S. Polasky, A. Purvis, J. Razzaque, B. Reyers, R. Roy Chowdhury, Y. J. Shin, I. J. Visseren-Hamakers, K. J. Willis und C. N. Zayas (Hrsg.). IPBES secretariat, Bonn. 56 pages. 

Mehring, M., B. Bernard, D. Hummel, S. Liehr, A. Lux (2017): Halting biodiversity loss: how social-ecological biodiversity research makes a difference. International Journal of Biodiversity Science, Ecosystem Services & Management 13 (1): 172–180

Jahn, T., D. Hummel, E. Schramm (2015): Nachhaltige Wissenschaft im Anthropozän. GAIA 24/2: 92–95 • Jahn, T., D. Hummel, L. Drees, S. Liehr, A. Lux, M. Mehring, I. Stieß, C. Völker, M. Winker, M. Zimmermann (2020): Sozial-ökologische Gestaltung im Anthropozän, GAIA (im Erscheinen)

Die Autor*innen

Dr. Marion Mehring leitet am ISOE – Institut für sozial-ökologische Forschung den Forschungsschwerpunkt „Biodiversität und Bevölkerung“. Neben konzeptionellen Arbeiten zu sozial-ökologischen Systemen beschäftigt sich die Geoökologin mit Fragen der Nutzungsdynamiken und Wahrnehmung von Biodiversität.
Dr. Alexandra Lux ist Leiterin des Forschungsschwerpunkts „Transdisziplinäre Methoden und Konzept“ am ISOE – Institut für sozial-ökologische Forschung. Konzepte zur transdisziplinären Integration wendet sie auch in der sozial-ökologischen Biodiversitätsforschung an.
Dr. Thomas Jahn ist wissenschaftlicher Geschäftsführer und Sprecher der Leitung des ISOE sowie Sprecher des Tätigkeitsschwerpunkts „Ökosystemleistungen und Klima“ im Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrum. Er forscht zu Natur- und Gesellschaftsbeziehungen.

Kontakt

Dr. Marion Mehring, ISOE – Institut für sozial-ökologische Forschung, Hamburger Allee 45 60486 Frankfurt am Main, mehring@isoe.de