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Editorial

Liebe Mitglieder und Freund*innen von Senckenberg,

Wie steht es um die Flüsse auf unserer Erde? Das ist die Frage, der wir uns in dieser Ausgabe nähern.

Der Weltbiodiversitätsrat IPBES hat in seinem Global Assessment Report 2019 einige Fakten über Gewässer zusammen­getragen. Demnach gelangen mehr als 80 Prozent des globalen Abwassers un­behandelt in die Umwelt; 300 bis 400 Millionen Tonnen Schwermetalle, Lösungsmittel, toxische Substanzen und andere Abfälle aus der Industrie werden jedes Jahr in die Gewässer eingeleitet. Als wäre dies nicht schon schlimm genug, sinkt gleichzeitig – und das ist einer der Haupttrends der Studie – die Fähigkeit der Ökosysteme, die Wasserqualität zu regulieren.

92% aller Flüsse und Seen in Deutschland sind in einem beklagenswerten Zustand.

35 % gelten als „erheblich ver­ändert“ und 15 Prozent gar als „künstlich“.

Der chemische Zustand gilt in ganz Deutschland als „nicht gut“.

In Deutschland sind die letzten offi­ziellen Zahlen zum ökologischen Zustand von Flüssen und Seen 2015 mit der EU­-Wasserrahmenrichtlinie veröffentlicht worden: Nur 8,2 Prozent der Oberflächen­ gewässer sind in die Kategorien „sehr gut“ und „gut“ eingestuft worden, 69,9 Prozent befinden sich in einem „mäßigen“ bis „unbefriedigenden“, 19,2 Prozent in einem „schlechten“ ökologischen Zu­stand. Der chemische Zustand gilt in ganz Deutschland als „nicht gut“, was in den flächendeckend auftretenden Schad­stoffen begründet liegt. Quecksilber oder polyzyklische aromatische Kohlenwasser­ stoffe zum Beispiel überschreiten in allen Gewässern die Norm. Biologisch wirk­same Substanzen wie Arzneimittel und Hormone beeinträchtigen aquatische Lebensgemeinschaften. Weiter machen unseren Flussökosystemen großflächige Begradigungen, Staustufen und Schleu­sen zu schaffen. So gelten 35 Prozent aller Flüsse und Seen als „erheblich ver­ändert“ und 15 Prozent gar als „künstlich“.

Ziel der Wasserrahmenrichtlinie ist es, bis zum Jahr 2027 sämtliche Oberflä­chengewässer in einen „guten“ Zustand zu überführen. In diesem Zusammenhang haben wir Menschen erkannt, dass nur gesunde Ökosysteme die Leistungen bereitstellen können, auf die wir angewie­ sen sind. Ein ganz wesentlicher Faktor ist die Selbstreinigungskraft unserer Flüsse und Seen, für die es wiederum funktio­nierende Organismengemeinschaften braucht – was aber schon geraume Zeit bekannt ist.

Seit den 1980er Jahren unter­nahmen Wasserwirtschafts­ und Natur­schutzbehörden verstärkte Anstrengun­gen zur Renaturierung. Rund 170 größere Projekte wurden deutschlandweit im Zeitraum von 1979 bis 2014 durchgeführt. Welche Erfahrungen unsere Wissen­schaftler*innen machten, wie ihnen dabei die Daten aus Langzeiterhebungen halfen und worauf es bei einer erfolgreichen Renaturierung ankommt, lesen Sie auf den folgenden Seiten.

Mehr über unsere Flüsse und jene in fernen Ländern, ihre Lebewesen, ihre Bedeutung als Trinkwasserspeicher und vieles mehr erfahren Sie in unserer neuen Ausstellung, die wir dank der großzügigen Unterstützung der Mainova AG auf den Weg bringen konnten. Auch unsere Kol­leg*innen im Görlitzer Museum geben mit ihrer Ausstellung „Abenteuer Neiße“ spannende Einblicke in das Leben an und in ihrem Fluss. Besuchen Sie uns!

Herzlichst, Ihr

Volker Mosbrugger
Generaldirektor der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung von 2005–2020

Belastung mit Spurenstoffen: Arzneimittel Diclofenac

Im Rahmen des interdisziplinären Verbundprojekts „NiddaMan“ sammelten und analysierten Expert*innen aus 11 Institutionen über 3 Jahre Daten in und an der Nidda. Erklärtes Ziel der Initiative: Strategien für ein nachhaltiges Management der Wasserressourcen zu entwickeln. Eine Schlüsselrolle spielt die Eliminierung sogenannter Spurenstoffe, darunter Körperpflegemittel, Industrie­chemikalien, Pestizide und Arzneimittel.

Wirkstoffe von Arzneimitteln können in Gewässern Konzentrationen erreichen, die schädlich auf aquatische Lebensgemeinschaften wirken. Die Grafik zeigt die durchschnittliche Konzentration des Schmerzmittels Diclofenac in Wasserproben für die Messstellen im Einzugs­ gebiet der Nidda. Abgesehen von wenigen Aus­ nahmen lagen die Werte ein Vielfaches über der EU-Qualitätsnorm von 0,1 Mikrogramm pro Liter. Zum Vergleich ist die empfohlene Jahresdurch­schnitt-­Umweltqualitätsnorm (JD­UQN) für dieses Arzneimittel angegeben. Sie beträgt 0,05 Mikro­ gramm (μg) pro Liter bzw. 50 Nanogramm (ng).

(NiddaMan: Entwicklung eines nachhaltigen Wasser­ressourcen­-Managements am Beispiel des Einzugsgebiets der Nidda)

Liebe Leser*innen,

wir leben in einem kleinen Dorf am Vogelsberg­rand. Unser Haus steht direkt an einem Bach, der geradewegs aus einem Naturschutzgebiet kommt, und bevor sein Wasser uns erreicht, ist es lediglich mit Wald und extensiv bewirtschafteten Wiesen in Kontakt gekommen. Schon mein Vater fing hier als Kind Forellen, und wenn unsere Söhne früher mit Kescher und Eimer loszogen, waren sie immer er­folgreich: Fische, Frösche, Flusskrebse, Steinflie­gen­nymphen und allerlei anderes Getier. Unser Bach ist voller Leben, noch heute. Und wir wünschen uns, dass das so bleibt …

Nur zwei Kilometer weiter finden sich in seinem Wasser erste Spuren der Zivilisation, und nachdem es sich dort mit jenem der Nidda vermischt hat, fließt es, streckenweise in ein kanalisiertes Bett gezwängt, weiter durch die Wetterau nach Frankfurt – und büßt von Kilometer zu Kilometer an Qualität ein.

Die Wissenschaft hat – wieder einmal – unlieb­same Wahrheiten zutage gefördert. Die Ergebnisse des Projekts „NiddaMan“ (s. oben) unter der Leitung von Jörg Oehlmann, Aquatische Ökotoxiko­logie der Goethe­Universität, zeichnen ein trübes Bild: Einträge aus Intensivlandwirtschaft, Haushalts­- und Industrieabwässern, darunter biologisch aktive Spurenstoffe wie das Arzneimittel Diclofenac, setzen den Lebewesen im Mittelteil und Unterlauf der Nidda stark zu. Mancherorts sind die Umweltqualitätsnor­men für einzelne Schadstoffe deutlich überschritten. Eine wichtige Erkenntnis: Bestehende Grenzwerte schützen aquatische Lebensgemeinschaften nicht hinreichend. Gewebeuntersuchungen an Fischen belegten krankhafte Veränderungen der Leber, die zwar nicht tödlich sind, die Tiere aber schwächen und ihre Fortpflanzungsfähigkeit beeinträchtigen.

Die Quintessenz von „NiddaMan“ lautet: Wenn wir die Ziele der Wasserrahmenrichtlinie 2027 errei­chen wollen (s. Abb oben), müssen wir unsere Kläran­lagen um eine vierte Reinigungsstufe aufrüsten, die auch Spurenstoffe wie Biozide, Schwermetalle und Medikamentenrückstände wirksam entfernt.

… denn funktionsfähige Ökosysteme sind kein Selbst­ zweck. Flüsse und Bäche sind Lebensadern – auch für uns Menschen. Sie versorgen uns mit Trink-­ und Brauchwasser, schützen uns vor Überschwemmun­gen und bieten Tieren wie Pflanzen Lebensraum. Und es sind Orte, die wir gerne aufsuchen und an denen wir uns wohlfühlen. Wir bürden unseren Fließgewässern zu viel auf und müssen sie bei der Erfüllung ihrer Aufgaben unterstützen.

Thorsten Wenzel

Editor­-in­-Chief