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Der Königsweg zur Nachhaltigkeit

Neue Herausforderungen für die Naturforschung


Wir stecken inmitten einer Umwelt-System-Krise. Klimawandel, Biodiversitätsverlust, Wasserknappheit vielerorts sind die Folgen unseres Raubbaus an der Natur und führen uns vor allem eines vor Augen: Die Natur ist die limitierende Ressource! Der Senckenberg-Generaldirektor veranschaulicht einen möglichen Weg, das Naturkapital dauerhaft zu erhalten – hin zu einer öko-sozialen Marktwirtschaft.

Angesichts der vielen globalen Hiobsbotschaften will man es kaum glauben: Noch nie ging es der Menschheit insgesamt so gut wie heute. Lebenserwartung, Zugang zu Bildung, zu sauberem Wasser, zu Energie sind auf einem globalen Allzeithoch, wie die UN-Berichte und die Entwicklung des Historical Human Development Index zeigen (s. Abb. unten) – und dies obwohl sich die Weltbevölkerung von 1950 bis heute verdreifacht hat: von 2,5 auf rund 7,7 Milliarden Menschen!

Woher kommt dieser Erfolg? Er gründet sich auf die menschliche Kreativität, die unermüdlich voranschreitet und mit der Weltbevölkerung wächst. So haben sich zum Beispiel die Legeleistung einer Henne, die Milchleistung einer Kuh und der Ernteertrag für Weizen pro Hektar seit 1950 ebenfalls etwa verdreifacht. Dieser Erfolg beruht letztlich auf nur einer Ressource: der Natur. Das „Naturkapital“ erhält uns am Leben, liefert uns die Grundlagen für unsere Existenz. Dies wird besonders deutlich, wenn wir auf die Entwicklung unserer wichtigsten Verbrauchsvariablen, wie etwa Wasser, Energie, Düngemittel, schauen: Sie alle zeigen ab den 1950er Jahren einen exponentiellen Anstieg (s. Abb.), ein Phänomen, das als „Great Acceleration“ – die „große Beschleunigung“ – in die Literatur eingegangen ist.

Historischer Index der menschlichen Entwicklung (HIHD) 1870 und 2015

NFM Band 150, Heft 7-9 2020
Der „Historische Index der menschlichen Ent­wicklung“ ist ein integrierendes Maß für die durchschnittliche Lebensqualität …
NFM Band 150, Heft 7-9 2020
… in drei Schlüssel­dimensionen der menschlichen Entwicklung: 1. Gesundheit und Lebenserwartung, 2. Bildung, 3. Lebensstandard (nach www.ourworldindata.org).

Ihr steht – erwartungsgemäß – ein ebenso rascher Anstieg von Schadstoffen und Umweltschäden gegenüber (s. Abb. weiter unten). So wird deutlich, dass die verschiedenen „Umweltkrisen“ wie Klimawandel, Biodiversitätsverlust, Ozeanversauerung keine getrennten Themen darstellen, sondern miteinander verflochten sind: Das Naturkapital schrumpft und ist zur limitierenden Ressource geworden. Wie wir gegenwärtig mit der Natur umgehen, ist nicht nachhaltig, nicht zukunftsfähig! Wir befinden uns inmitten einer Systemkrise und müssen rasch eine Lösung finden.

Neueste Studien kommen zum Ergebnis, dass je nach Klimaszenario bis zum Jahr 2100 zwischen 190 und 630 Millionen Menschen allein aufgrund des ansteigenden Meeresspiegels umgesiedelt werden müssen! Für die 9-Millionen-Stadt Jakarta ist dies bereits beschlossen und in Vorbereitung. Das durch den Menschen versursachte Artensterben schreitet heute zwischen zehn- und tausendmal schneller voran als das„normale Hintergrundaussterben“ und beschert uns jährlich volkswirtschaftliche Schäden von schätzungsweise vier Billionen US-Dollar. Welche Konsequenzen diese breit angelegte Naturzerstörung und das knapper werdende Naturkapital auf Wirtschaft, Migrationsströme und Politik haben werden, kann heute niemand wirklich absehen. Im Vergleich zu dem, was uns dahingehend erwartet, dürften die globalen Auswirkungen der Corona-Pandemie eine Petitesse sein.

Verursacherprinzip einführen

„The Great Acceleration“ ist eine Systemkrise und um sie zu bewältigen, bedarf es einer Systemlösung. Unser Naturkapital darf nicht noch weiter schrumpfen, wir müssen weg von der Ausbeutung der Natur hin zu einer nachhaltigen, zukunftsfähigen Nutzung der natürlichen Ressourcen.

Hier bietet die Anwendung des Verursacherprinzips einen Ausweg: Wer Naturkapital und damit Ökosystemleistungen zerstört, hat die Verpflichtung, die damit einhergehenden Einbußen für die Gesellschaft auf seine Kosten wieder auszugleichen beziehungsweise zu kompensieren. Doch wie lässt sich dieses Prinzip umsetzen?

Zunächst einmal braucht es Transparenz. Jedes Unternehmen müsste verpflichtet werden, seinen ökologischen Fußabdruck, seine Nutzung des Naturkapitals und damit die Umweltschäden beziehungsweise -beeinträchtigungen in der Geosphäre, Hydrosphäre, Atmosphäre und Biosphäre zu erfassen und offenzulegen. Unternehmen hätten also in ihrer Jahresbilanz nicht nur ihre wirtschaftlichen Daten, sondern auch ihre Umweltschäden nach einem standardisierten Verfahren aufzuführen und monetär zu bewerten. Boston Consult führte für die deutsche Landwirtschaft eine Studie durch (BCG 2019) und ist zu folgendem Ergebnis gekommen: Die Bruttowertschöpfung der deutschen Landwirtschaft liegt bei 21 Milliarden Euro pro Jahr, die Umweltschäden – bisher „externalisiert“ und damit von der Gemeinschaft getragen – betragen aber 90 Milliarden Euro. Insgesamt ist die deutsche Landwirtschaft, wie wir sie heute betreiben, in hohem Maße defizitär.

Würden wir dies nun auf einzelne Betriebe herunterbrechen, hätten Konsument*innen und Investor*innen Klarheit darüber, wie umweltschonend oder -schädigend diese arbeiten. Es ist naheliegend, dass Betriebe – um nach außen ein gutes Bild abzugeben – versuchen würden, Umweltschäden zu minimieren.

NFM Band 150, Heft 7-9 2020
Sozioökonomische Veränderungen
Die demografischen Veränderungen auf der Erde, gestiegene Mobilität, der Wunsch nach Wohlstand und Luxusgütern sind die Treiber der industrialisierten Gesellschaft von heute. Ihr energetischer und materieller Bedarf ist beträchtlich; der Land- und Ressourcenverbrauch ist ebenso sprunghaft angestiegen wie das Aufkommen von Müll und Emissionen.

Umweltkosten internalisieren

Dann muss aber auch der nächste Schritt erfolgen (s. Abb. oben und unten): Die erfassten externalisierten Kosten müssen internalisiert, also in die Preisgestaltung der Produkte eingehen, denn nur dann trägt auch der eigentliche Verursacher der Umweltschäden – der*die Konsument*in – die Kosten dafür. Diese Internalisierung externer Umweltkosten ist aber wiederum nur dann sinnvoll, wenn der*die Landwirt*in oder die Institution, die vom*von der Kund*in die internalisierten Kosten als Ertrag erhält, diesen auch für die Kompensation der Umweltschäden verwendet. Für die von der BCG vorgelegten Zahlen würde dies bedeuten, dass die deutsche Bevölkerung für die im eigenen Land hergestellten landwirtschaftlichen Produkte statt 21 Milliarden rund 111 Milliarden Euro jährlich aufzuwenden hätte und die Landwirt*innen den Mehrertrag von 90 Milliarden in die Erhaltung des Naturkapitals, das heißt in die Kompensation der entstandenen Umweltschäden investieren müssten (was auch über eine eigene Institution erfolgen kann). Nach diesem Modell wären diejenigen landwirtschaftlichen Produkte besonders teuer, die besonders umweltschädlich sind: die Kosten von Rindfleisch bei Internalisierung der externen Kosten stiegen gemäß der BCG-Studie um den Faktor 5–6, Schweinefleisch würde sich um den Faktor 2–2,5 und Äpfel lediglich um den Faktor 1,1 verteuern. Damit würde sich aber auch das Konsumverhalten hin zu den umweltschonenderen Produkten verschieben.

Natürlich ergibt sich hier die Frage: Ist diese Systemlösung zur Erhaltung der Natur und des Naturkapitals überhaupt realistisch und durchsetzbar? Die Antwort ist: Ja, sie ist sogar unabdingbar und muss in der einen oder anderen Variante kommen! Tatsächlich haben wir uns in einigen Bereichen daran bereits gewöhnt, so etwa beim Trinkwasser und beim Müll. Denn hier zahlen wir auch für die Aufbereitung des Abwassers und die Entsorgung unserer Abfälle. Bei der Produktion von Treibhausgasen wie CO2 stehen wir hier noch weitestgehend am Anfang, aber immerhin gibt es inzwischen selbst in Deutschland einen Preis für CO2-Emissionen (obgleich diese Erträge bisher nicht für die CO2-Entsorgung eingesetzt werden).

NFM Band 150, Heft 7-9 2020
Veränderungen im Erdsystem
Unerwünschte „Nebeneffekte“, die mit der modernen Wachstumsgesellschaft einhergehen. Es ist die große Herausforderung unserer Zeit, dass wir Menschen lernen, die Auswirkungen unseres Handelns auf das System Erde zu berücksichtigen. Damit stehen wir vor der Notwendigkeit, die Interaktionen und Dynamik des Gesamtsystems Erde zu verstehen und bei unseren Entscheidungen einzubeziehen.

Der Weg zur öko-sozialen Marktwirtschaft

Der Vorteil dieser schrittweisen Internalisierung externer Kosten und damit letztlich der Entwicklung einer Kreislaufwirtschaft liegt auf mehreren Ebenen. Zunächst einmal ist diese auf dem Verursacherprinzip beruhende Systemlösung nachvollziehbar und auch global betrachtet gerecht: Wer Naturkapital vernichtet, ist für dessen Wiederherstellung verantwortlich. Da dies idealerweise am Ort des Geschehens erfolgen muss, lässt sich ein Export von Umweltsünden durch Import von Waren – wie das gegenwärtig der Fall ist – verhindern. Ein weiterer Vorteil liegt darin, dass diese Systemlösung bei dem wichtigsten „indirekten Treiber“ der Vernichtung von Naturkapital ansetzt: der bisherigen Praxis, dies stillschweigend in Kauf zu nehmen. Dadurch erspart man sich eine hochkomplexe „Mikroregulatorik“, die jede umweltschädliche Handlung einzeln zu reglementieren sucht und in der Regel an Zielkonflikten scheitert. So ist „Bio-Diesel“ gut für das Klima, aber schlecht für die Nahrungsmittelproduktion und die Biodiversität. Zugleich treibt man eine globale „Inno- vationsspirale“ an, da jedes Unternehmen daran arbeiten wird, die externen Kosten zu minimieren.

Insgesamt muss es unser Ziel sein, die „soziale Marktwirtschaft“, die auf eine nachhaltige Entwicklung und Sicherung des Wirtschafts- und Humankapitals ausgerichtet ist, nun in eine „öko-soziale Marktwirtschaft“ zu überführen, die sich gleichberechtigt auch der nachhaltigen Entwicklung des Naturkapitals annimmt. Und genau daran arbeiten verschiedene Wirtschaftskonsortien, wie etwa die „Value Balancing Alliance“, die entsprechende Standards für Europa entwickeln will.

Sozial vs. Öko-sozial

NFM Band 150, Heft 7-9 2020
Vereinfachte Darstellung der Unterschiede von sozialer und öko-sozialer Marktwirtschaft.
NFM Band 150, Heft 7-9 2020
Nur in der ökosozialen Marktwirtschaft wird das verbrauchte Naturkapital auch wieder aufgebaut.

Was kann die Naturforschung beitragen?

Die Umsetzung einer öko-sozialen Marktwirtschaft mit Internalisierung der externen Kosten ist nicht trivial und stellt besondere Anforderungen an die Naturforschung. Vereinfacht geht es um fünf Themenfelder:

01. Bestandsaufnahme des Naturkapitals Zunächst müssen wir das heutige Naturkapital für die vier Kompartimente des Erdsystems (Geo-, Hydro-, Atmo- und Biosphäre) in seinem Bestand erfassen. In der Geo-, Hydro- und Atmosphäre ist diese Arbeit schon recht weit gediehen, aber die Erhebungen in der Biosphäre sind noch sehr lückenhaft. Mit knapp zwei Millionen Tier- und Pflanzenarten haben wir vermutlich erst weniger als ein Fünftel der tatsächlichen Artenvielfalt erfasst; über die genetische Diversität wissen wir fast gar nichts.

02. Systemverständnis: Das Naturkapital, das uns Menschen die Existenz sichert, ist ein komplexes System, jeder Eingriff in die Natur hat daher systemische Auswirkungen. So führen Eingriffe in die Biosphäre, etwa die Rodung eines Waldes, zu Veränderungen des regionalen Wetters und Klimas, des Wasserkreislaufs, der Verwitterung und Erosion. Systemische Naturforschung ist ein Markenzeichen von Senckenberg; zusammen mit der Bestandsaufnahme schafft sie erst die wissenschaftlichen Grundlagen für eine Internalisierung externer Kosten.

03. Erhaltung und nachhaltige bzw. „minimal- invasive“ Nutzung von Natur: Auf der Grundlage der Punkte 1 und 2 gilt es nun, für verschiedene Wirtschaftszweige Wege zu einer (möglichst) nachhaltigen Nutzung der Natur und damit Minimierung externer Kosten zu erarbeiten. Hier liegt künftig ein wichtiges Arbeitsfeld für die systemische Naturforschung. Wertvolle Anregungen dazu bieten die Leopoldina-Studien zur Biodiversität sowie der Bericht des Weltbiodiversitätsrates (IPBES 2019).

04. Erfassung der externen Kosten: Es ist eine besondere Herausforderung, die Auswirkungen menschlicher Aktivitäten auf das Naturkapital zu beurteilen und dabei insbesondere die externalisierten Kosten (die dann zu internalisieren sind) zu identifizieren. Obgleich hier schon viele Studien existieren (z. B. der TEEB-Interim Report 2008 und Folgestudien), besteht großer Forschungsbedarf. Welche externalisierten Kosten fallen etwa beim Goldschürfen im Amazonas-Gebiet, beim Kaffeeanbau in Peru oder beim Bau eines Staudamms in Äthiopien an? Die Erfahrung zeigt, dass sich viele Projekte bei Internalisierung externer Kosten gar nicht lohnen.

05. Kompensationsmaßnahmen: Sind die externalisierten Kosten identifiziert und gegebenenfalls auch internalisiert, gilt es, Wege zu finden, wie mit den Erträgen das zerstörte Naturkapital wiederhergestellt beziehungsweise kompensiert werden kann. Auch dies setzt eine Bestandserfassung und ein Systemverständnis der Natur voraus.

Während die Punkte 1 und 2 eher der Grundlagenforschung zuzuordnen sind, beschreiben 3, 4 und 5 die Naturforschung zusammenfassend als eine „Heilkunde der Erde“, die der Erhaltung und der nachhaltigen Nutzung des Naturkapitals dient.

Fazit

Noch nie ging es der Menschheit so gut wie heute – noch nie in der jüngeren Geschichte der Menschheit ging es der Natur so schlecht. Denn unser Wohlstand beruht auf der Ausbeutung der Natur. Das Naturkapital ist die limitierende Ressource geworden, Klimawandel, Biodiversitätsverlust, Wasserknappheit etc. sind die Folge. Die Bewältigung dieser Umwelt-Systemkrise erfordert eine Systemlösung. Sie besteht in der Etablierung einer „öko-sozialen Marktwirtschaft“, die die nachhaltige Entwicklung des Wirtschafts-, Human- und Naturkapitals gleichermaßen zum Ziel hat. Dies wiederum setzt die Erfassung der externalisierten Kosten und deren Internalisierung voraus wie auch die Nutzung dieser Mehrerträge zur Wiederherstellung beziehungsweise Kompensation des Naturkapitals. Eine moderne systemische Naturforschung, wie Senckenberg sie entwickelt und betreibt, ist ein zentrales Element zur Umsetzung dieser Systemlösung, ihre gesellschaftliche Relevanz wird entsprechend zunehmen. Dies ist für Senckenberg sowohl eine Verpflichtung als auch eine Chance.

Literatur

BCG (2019): Die Zukunft der deutschen Landwirtschaft nachhaltig sichern – Denkanstöße und Szenarien für ökologische, ökonomische und soziale Nachhaltigkeit. – The Boston Consulting Group GmbH. 60 Seiten

IPBES (2019): Global assessment report on biodiversity and ecosystem services of the Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services. E. S. Brondizio, J. Settele, S. Díaz, and H. T. Ngo (Hrsg.). – IPBES secretariat, Bonn, Germany 

Mosbrugger V. (2018): Eine Medizin für die Erde. Die Vision eines nachhaltigen und wissenschaftsbasierten „Erdsystem-Managements“ soll keine Utopie bleiben. – Senckenberg – Natur, Forschung, Museum, 148, 1–3 2018: 6–13

European Communities (2008): TEEB – The economics of ecosystems and biodiversity. An interim report. Cambridge, UK: A Banson Production; 2008.

Steffen, W., Broadgate, W., Deutsch, L., Gaffney, O. & Ludwig, C. (2015): The trajectory of the Anthropocene: The Great Acceleration. – SAGE Journals, 2/1: 81–98

Der Autor

Volker Mosbrugger leitet seit 2005 die Geschicke von Senckenberg. Sein Forschungsinteresse gilt vor allem heutigen ökologischen und klimatischen Veränderungen, die er vor dem Hintergrund erdgeschichtlicher Vorgänge analysiert – für einen wissenschaftlich fundierten Naturschutz und ein nachhaltiges
Natur-„Management“ im System Erde–Mensch.

Kontakt

Prof. Dr. Dr. h. c. Volker Mosbrugger
Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung,
Senckenberganlage 25
D-60325 Frankfurt a. M.
volker.mosbrugger@senckenberg.de