NFM 10-12-2020
Renaturierter Abschnitt an der Nidda bei Dortelweil viele Jahre nach Umsetzung der Maßnahme. Der eintönige Kanal wurde in ein strukturreiches Gewässer verwandelt.

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Fließgewässer renaturieren – aber wie?

Schon die Planungen müssen großräumiger, ganzheitlicher und prozessorientierter sein.


Untersuchungen zur Erfolgskontrolle nach Renaturierungen brachten es ans Licht: Aufwändige Renaturierungsmaßnahmen zeigen in den meisten Fällen nicht den erwünschten Erfolg: Die verschwundenen Arten kehren nicht zurück. Woran das liegt und wie man das ändern könnte, erforscht die Senckenberg-Abteilung Fließgewässerökologie seit vielen Jahren. 

Naturnahe Fließgewässer schlängeln sich durch die weite Landschaft, haben Windungen und Biegungen. Sie sind verzweigt und haben Kies­ und Sandbänke oder Inseln im Wasser. Die Ufer sind beschattet und das Wasser sucht sich seinen eigenen Weg. Bäume, die ins Wasser stürzen, dürfen liegenbleiben und dienen dem Eisvogel als Ansitz. Als Fließgewässerökologe kommt man ins Schwärmen …

Begradigt und verschmutzt

Die Realität sieht leider ganz anders aus. Weltweit zählen Süßwasserökosysteme zu den am stärksten veränderten Lebensräumen. Unsere Fließgewässer wurden in der Vergangenheit begradigt, befestigt oder mit Schleusen versehen. Wir belasten unsere Gewässer mit Schadstoffen, manchmal über diffuse Eintragspfade, weil wir das Land beziehungsweise den Boden so intensiv nutzen, aber auch aus Punktquellen, wie zum Beispiel kommunalen Kläranlagen. Wir können in Gewässern viele Hunderte Industrie­-, Agrar-­ und Haushaltschemikalien nachweisen. Gerade weil Arznei­- und Körperpflegemittel oder Biozide biologisch hoch aktiv, aber gleichzeitig schwer abbaubar sind, können sie bereits in sehr geringen Konzentrationen den Wegfall sensitiver Arten bedingen oder die Gesundheit einzelner Arten negativ beeinflussen (Buchberger et al. 2018; Berger et al. 2017).

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Ausgebauter und begradigter Gewässerabschnitt an der Nidda mit geringer Habitat- und Artenvielfalt.

Selbstreinigungspotenziale beeinträchtigt

Die strukturelle Veränderung in Kombination mit der stofflichen Belastung der Gewässer führt in vielen Fällen dazu, dass die Selbstreinigungspotenziale verschwinden und die ökologische Funktion der Fließgewässer in unseren Ökosystemen verloren geht. Zudem kommt es in stark beeinträchtigten Gewässern zu einem massiven Biodiversitätsverlust – rund 90 Prozent aller Oberflächenwasserkörper in Deutschland werden derzeit als ökologisch nicht intakt eingestuft (BMUB/UBA 2016).

Um diesen Defiziten entgegenzuwirken, werden seit etwa 20 Jahren verstärkt Anstrengungen unternommen, die Gewässer wieder in einen naturnäheren Zustand zu überführen. Maßgeblich mitverantwortlich für diese Entwicklung ist die seit dem Jahr 2000 geltende Europäische Wasserrahmenrichtlinie (WRRL).

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Strukturell naturnaher Abschnitt an der Kinzig in der Bulau.

Zauberwort Renaturierung?

Vieles, was bisher umgesetzt wurde, zielt in erster Linie auf die Rekonstruktion eines natürlichen Gewässerverlaufs ab. Beispielsweise wurden Flüsse wieder verzweigt, Steinschüttungen und Querbauwerke entfernt, Totholz als wichtiges Strukturelement in die Gewässer eingebracht oder andere Maßnahmen ergriffen, um die Vielfalt der Lebensräume zu erhöhen. Tatsächlich haben Renaturierungsprojekte messbar positive Auswirkungen insbesondere auf die Auenvegetation und die dort lebenden Tiere, beispielsweise die Laufkäfer.

Die jahrelange Forschung bei Senckenberg zeigt aber auch, dass die im eigentlichen Gewässer lebenden Artengemeinschaften nach der Umsetzung einer Renaturierung nicht automatisch mit einer Zunahme der Artenzahl oder einer erhöhten Diversität reagieren. Der von der Europäischen Wasserrahmenrichtlinie geforderte gute ökologische Zustand lässt sich auch Jahre nach der Renaturierung oftmals nicht erreichen (Leps et al. 2016). Gerade die Artengemeinschaften der benthischen Invertebraten, die auf dem Gewässerboden lebenden Wirbellosen, verändern sich nach einer Renaturierung kaum. Die Gründe hierfür sind vielfältig.

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Beprobung der am Gewässergrund lebenden Wirbellosen in einem naturnahen Gewässerabschnitt.

Leider oft nicht erfolgreich

Häufig wirkt einer oder mehrere der vier folgenden Faktoren einer erfolgreichen Renaturierung entgegen (Friberg et al. 2016):

01 Planer*innen und politische Entscheider*innen berücksichtigen bei Renaturierungen großräumig wirkende Prozesse auf Ebene des Einzugsgebiets nicht angemessen. Eine intensive Landnutzung und der damit verbundene Eintrag von Nähr­ und Schadstoffen beispielsweise müssten in einem realistischen Ausmaß in die Planungen einfließen. Zudem sind die Projektelemente zur Verbesserung der Gewässermorphologie bzw. der hydrologischen Situation oftmals zu kleinskalig umgesetzt.

02 Ähnliches gilt für andere Parameter wie die natürlichen Abflussgegebenheiten und den damit verbundenen Sedimenttransport. Auch sie finden sich häufig nur unzureichend bei der Planung und in der Umsetzung von Renaturierungsmaßnahmen wieder.

03 Die renaturierten Abschnitte der Bäche und Flüsse sollen von den Organismen wiederbesiedelt werden. Das geht allerdings nur, wenn es Quellpopulationen in hinreichender Entfernung zum renaturierten Abschnitt gibt – auch das ist oft nicht der Fall. Zudem wirken Dispersionsbarrieren, das heißt unpassierbare Abstürze wie etwa Wehre, einer erfolgreichen Wiederbesiedlung renaturierter Gewässerabschnitte entgegen.

04 Selbst wenn Planer*innen die Anlage entsprechender Habitate für eine erfolgreiche Wiederbesiedlung vorgesehen haben, gelingt es häufig nicht, sie im Rahmen der Renaturierungsmaßnahme ausreichend und mit nachhaltiger Wirkung anzulegen.

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Wie fängt man Wirbellose am Gewässergrund? Das Substrat wird mit Hand oder Fuß bewegt und die Tiere lassen sich mit der Strömung in den Kescher treiben.

In Zukunft ganzheitlich und prozessorientiert arbeiten

Als weiterer Grund für den geringen Erfolg von Renaturierungen ist sicher das Fehlen von ausreichend großen Flächen am Gewässerrand zu nennen. Dies schränkt die Möglichkeit einer sich entwickelnden Eigendynamik ein.

Natürliche Gewässerökosysteme sind gekennzeichnet durch eine Vielzahl hydrologischer und morphologischer Gegebenheiten, die wiederum mit komplexen Lebensstrukturen interagieren. Um diese Zusammenhänge aufzudecken, müssen verschiedener Fachdisziplinen zusammenarbeiten: zum Beispiel Hydrologie, Geomorphologie, Ökologie, Ökonomie, Soziologie und Verfahrenstechnik. Dabei gilt es, möglichst alle auf ein Gewässer wirkenden Faktoren zu erfassen, zu adressieren und alle beteiligten Akteur*innen für Renaturierungsprojekte zu gewinnen. Nur dann werden unsere Bemühungen in Zukunft erfolgreich sein, und wir dürfen wieder auf vielfältigere Artengemeinschaften in unseren einheimischen Fließgewässern hoffen.

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Viele Steinfliegenarten reagieren sehr empfindlich auf Schadstoffe. Hier eine Larve von Perla marginata, deren Entwicklung im Gewässer mehrere Jahre dauert.

5 FRAGEN AN DIE AUTOR*INNEN

Aus welchen Studien schließen Sie Ihre Erkenntnisse?
Insgesamt untersuchen wir schon seit über zehn Jahren die (Aus-)Wirkungen von Renaturierungsmaßnahmen auf verschiedene Organismengruppen. Unsere Erkenntnisse stammen aus mehreren nationalen Forschungsprojekten, im Rahmen derer wir rund 65 Fließgewässer untersucht haben. Zudem haben wir an der Nidda dank eines großen, vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Forschungsprojekts der Goethe-Universität Frankfurt einen guten Einblick in die Bedeutung der (Mikro-)Schadstoffe für unsere heimischen Fließgewässer bekommen können.

Welche Gewässer wurden wie und in welcher Intensität beprobt?

Wir arbeiten deutschlandweit. Unsere Arbeiten konzentrieren sich jedoch auf Kinzig und Nidda. Hier überwachen wir jährlich verschiedene Organismengruppen.

Wie hat man sich das vorzustellen? Welche Methoden kommen zum Einsatz?

Die Anzahl der Tage, die wir am Gewässer verbringen, ist relativ gering. Ein großer Teil der Arbeit findet im Labor statt. Hier bestimmen wir die gesammelten Tiere und führen die Tests zur kritischen Schadstoffbelastungen durch.

Gab es dahingehend überraschende Erkenntisse?

Es ist schon erstaunlich, an wie vielen Stellen und in welchen hohen Konzentrationen Dinge unseres Alltags, wie beispielsweise Schmerzmittel, in unseren heimischen Flüssen nachweisbar sind. Das stimmt nachdenklich.

Was könnten wir, was kann jede*r Einzelne von uns tun?

Um den Zustand der Gewässer nachhaltig zu verbessern, bedarf es einer raschen und konsequenten Umsetzung der vorgeschlagenen Maßnahmen. Zudem kann jede*r von uns, gerade in trockenen Sommern, sparsam mit Wasser umgehen. Weiter sollten wir zum Beispiel Arzneimittel nicht in der Toilette entsorgen; das verhindert, dass sie über das Abwasser in unseren Flüssen landen und deren Lebensgemeinschaften schädigen.

Literatur

Berger, E., Haase, P., Kuemmerlen, M., Leps, M., Schäfer, R. & Sundermann, A. (2017): Water quality variables and pollution sources shaping stream macroinvertebrate communities. – Science of the Total Environment 587–588: 1–10.

Buchberger, A.K., Brettschneider, D., Berg, K., Jungmann, D., Oehlmann, J., Scheurer, M. & Oetken, M. (2018): Effects of metoprolol on aquatic invertebrates in artificial indoor streams. – Journal of Environmental Science and Health A 53: 728–739.

BMUB/UBA (2016): Die Wasserrahmenrichtlinie – Deutschlands Gewässer 2015. Bonn, Dessau. • Friberg, N., O’Hare, M.T. & Poulsen, A.M. (2013): Impacts of hydromorphological degradation and disturbed sediment dynamics on ecological status. http://reformrivers.eu.

Haase, P., Hering, D., Jähnig, S.C., Lorenz, A.W. & Sundermann, A. (2013): The impact of hydromorphological restoration on river ecological status: a comparison of fish, benthic invertebrates, and macrophytes. – Hydrobiologia 704: 475–488.

Leps, M., Sundermann, A., Tonkin, J.D., Lorenz, A.W. & Haase, P. (2016): Time is no healer: increasing restoration age does not lead to improved benthic invertebrate communities in restored river reaches. – Science of the Total Environment 557: 722–732.

Stalter, D., Magdeburg, A., Quednow, K., Botzat, A. & Oehlmann, J. (2013): Do contaminants originating from state­of­the­art treated wastewater impact the ecological quality of surface waters? – PLoS ONE 8 (4): e60616.

Die Autor*innen

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PD Dr. Andrea Sundermann leitet seit 2012 die Sektion für Flussökosystem­Management in der Abteilung für Fließgewässerökologie und Naturschutzforschung bei Senckenberg. Ihr wissenschaftliches Interesse gilt den am Gewässergrund lebenden Wirbellosen und der Frage, welche Umweltparameter für die Ausprägung der Biozönosen besonders relevant sind.
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Nathalie Kaffenberger ist Biologin und seit 2013 als Projektmanagerin am Senckenberg­Standort Gelnhausen tätig. Zu den Aufgaben der Biologin gehören Probenahme, Bestimmung der benthischen Invertebraten und Aufbereitung der Taxalisten sowie die Pflege der Datenbanken als Basis für die laufenden Forschungsprojekte.
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Dr. Matthias Oetken arbeitete in mehreren Projekten zur Bewertung der Ökotoxizität von Industriechemikalien und Pestiziden. Seit 2002 befasst sich der Biologe an der Goethe­ Universität Frankfurt mit den Effekten von Arzneimitteln und Pestiziden auf einzelne Arten und Artengemeinschaften sowie mit dem Management von Oberflächengewässern.