Positionspapier zum kolonialen Kontext der Senckenberg Sammlungen

Auf der Basis der aktuell intensiv geführten Diskussionen zum kolonialen Hintergrund von Teilen europäischer Sammlungen (z. B. Workshop Politics of Natural History. How to decolonize the Natural Museum 2018; überarbeiteter Leitfaden des Deutschen Museumsbundes 2019; Eckpunkte-Papier des Bundes, der Länder und der Kommunen 2019) setzt sich auch Senckenberg mit dieser Thematik auseinander. Als Wissenschaftler*innen mit Sammlungsverantwortung sind wir für die Umstände beim Erwerb bestehender Sammlungen zwar nicht immer verantwortlich, wohl aber für unseren Umgang mit ihrer Geschichte. Wir stehen daher zu unserer Verpflichtung, den kolonialen Hintergrund im Aufbau unserer Sammlungen zu erforschen, offenzulegen und in Ausstellungen angemessen zu vermitteln. Die Aufarbeitung des kolonialen Erbes naturkundlicher Forschungseinrichtungen versteht Senckenberg als wichtigen Schritt auf dem Weg zu Kooperationen auf Augenhöhe mit Institutionen der jeweiligen Herkunftsländer unserer Sammlungen. Zu Übereinkünften mit den Herkunftsgesellschaften wird es jedoch nur kommen, wenn alle Partner gleichberechtigt agieren und auf dieser Basis einen ehrlichen Dialog mit dem Ziel einer Einigung führen. Dabei sollten neben den primären Interessen der Herkunftsländer und ihrer Bevölkerung (z. B. ermittelt für 17 afrikanische Museen durch Sebuliba 2019) auch die Interessen der internationalen wissenschaftlichen Gemeinschaft eine Rolle spielen.

Zweifelsohne steht ein Teil der historischen Sammlungen Senckenbergs in einem kolonialen Kontext, d. h. die Objekte wurden während der Zeit der großenteils europäischen Expansionspolitik in ehemaligen deutschen bzw. Kolonien anderer europäischer Staaten oder in Gebieten mit „informellen kolonialen Strukturen“ gesammelt. Wir stimmen jedoch mit dem Leitfaden überein, dass zunächst der koloniale Kontext eines Sammlungsobjektes nicht per se mit einer problematischen Provenienz des Sammlungsstückes gleichzusetzen ist, sondern dass gegebenenfalls seine Herkunftsumstände geprüft werden müssen. Nur in wenigen Fällen können wir aber bisher die konkrete Herkunftsgeschichte (Hintergründe zu den Sammelreisen z. B. auch Ankauf von Sklaven durch europäische Forschungsreisende, tatsächliche Erwerbsumstände, Tausch von Objekten etc.) dokumentieren. Dies hat einerseits auch mit der Geschichte unserer Forschungsmuseen im 20. Jahrhundert zu tun, die z. B. durch weltkriegsbedingte Auslagerungen, Verluste, Provisorien und den Mangel an kuratorischer Betreuung gekennzeichnet ist. Andererseits bedürfen fachlich solide Untersuchungen Erfahrung in der Provenienzforschung, für die von den Geldgebern zusätzliche Ressourcen zur Verfügung gestellt werden müssen. Für die ca. 40 Millionen Sammlungsobjekte Senckenbergs ist daher eine adäquate Dokumentation – so wünschenswert sie auch immer sein mag – in absehbarer Zeit unmöglich, vor allem vor dem Hintergrund der aktuell zur Verfügung stehenden Ressourcen. Wir glauben aber, dass wir durch finanzielle Unterstützung, z. B. durch große, noch ausstehende Digitalisierungsinitiativen (z. B. DiSSCo) wesentliche Lücken im Zugang zu den Metadaten aus historischen Sammlungen schließen könnten. Vor diesem Hintergrund müssen wir derzeit für eine umfassende Herkunftsanalyse eine Priorisierung innerhalb der Sammlungsobjekte mit kolonialem Kontext vornehmen und diese mit Provenienzforschungen in Hinblick auf die NS-Zeit abgleichen, deren Aufarbeitung Senckenberg auch in Angriff genommen hat (Hansert 2018).

Zentral erscheint uns die Unterscheidung von naturhistorischem Material einerseits und historisch bzw. kulturell sensiblen Objekten andererseits. Zu den letzteren zählen „menschliche Überreste, religiöse und zeremonielle Objekte und Herrschaftszeichen“ (Museumsbund 2019). Die Forschungssammlungen von Senckenberg enthalten traditionell nur sehr wenige ethnologische Objekte und sterbliche Überreste aus historischen Zeiträumen. Ethnologische Objekte aus den Frankfurter Sammlungen wurden bereits vor Jahren an das Weltkulturenmuseum in Frankfurt/M. abgegeben. Naturkundliche Objekte, gesammelt von Missionaren der nahezu weltweit tätigen Herrnhuter Brüdergemeine, wurden zwar in die Sammlungen des SMN in Görlitz aufgenommen, anthropologische Sammlungsbestände des Missionswerkes aber sofort an ethnographische Sammlungen weitergegeben. In der Sammlung Paläoanthropologie in Frankfurt befinden sich ca. 200 menschliche Überreste, deren Provenienz noch aufgebarbeitet werden muss. Alle sterblichen Überreste von Menschen aus kolonialen Kontexten sind grundsätzlich zu repatriieren (Staatsministerin des Bundes für Kultur und Medien et al. 2019). Dies kann aber nur nach erfolgter Provenienzforschung und in Kollaboration mit den Herkunftsgesellschaften und den Herkunftsstaaten geschehen. Bislang wurden menschliche Überreste nach Australien und Neuseeland repatriiert (Cawthorn 2014; Schrenk et al. 2018). Eine historische Aufarbeitung von sensiblem Material kann über eine finanzielle Unterstützung des Deutschen Zentrums für Kulturgutverluste gefördert werden. Hier ist Senckenberg mit einem Antrag zu sterblichen Überresten aus Namibia aktiv.

Abgesehen von den oben genannten Überresten von Menschen, die von der Anzahl der Objekte her einen verschwindend kleinen Teil ausmachen, umfassen die Senckenberg Sammlungen praktisch ausschließlich naturkundliches Material (rezente und fossile Pflanzen, Pilze und Tiere sowie Gesteine, Minerale und Meteoriten). Grundsätzlich werden wir dem Aspekt der Provenienz bzw. der Art der Erwerbung bei der Bearbeitung aller Sammlungen in Zukunft besondere Beachtung schenken. Daher verpflichtet sich Senckenberg zu Transparenz bzgl. der Herkunft seiner Bestände, sowie zu öffentlichem Zugang zu den entsprechenden Dokumentationen. Dies ist für zahlreiche historische Sammlungen und Sammler bei Senckenberg durch Publikationen und in einigen Sammlungen auch durch öffentlich zugängliche Verzeichnisse der Sammler und der Provenienz ihrer Sammlungen bereits realisiert (z. B. Index Collectorum Herbarii Senckenbergiani (FR). Wir führen in allen Teilsammlungen aktuell Recherchen nach weiteren historisch bzw. kulturell sensiblen Objekten durch, angesichts der Größe unserer Sammlungen können diese aber nicht vollständig sein.

Senckenberg verfolgt eine in die Zukunft gerichtete Sammlungsstrategie, die Sammlungen als zentrale Infrastruktur für Forschung sieht. Umfangreiche und geographisch möglichst vollständige Sammlungen sind die Grundlage moderner Biodiversitätsforschung. Belegsammlungen von Naturobjekten einer Region in unterschiedlichen Museen der Welt aufzubewahren, verringert zudem Verlustgefahren, etwa durch Kriege, Brände, Erdbeben oder andere unvorhersehbare Naturkatastrophen. Wissenschaftliche Objekte müssen grundsätzlich für künftige Forschungen bereitgehalten werden und dauerhaft sicher verwahrt werden. Beachtet werden muss unserer Meinung nach, dass Objekte

i) in den Originalveröffentlichungen in bestimmten Sammlungen verortet sind,

ii) einer oft besonderen konservatorischen Aufmerksamkeit bedürfen, und

iii) für andere Forscher*innen frei zugänglich sein müssen.

Senckenberg unterstützt daher durch langfristige Kooperationen Institutionen in Herkunftsländern bei Capacity Building und beim Aufbau von Forschungsinfrastrukturen (z. B. Malawi, Kenya, Burkina Faso, Mongolei, Brasilien).

Senckenberg  trägt seit Jahrzehnten im Rahmen von partnerschaftlichen Forschungsprojekten zum Wissenstransfer und zur Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses in Hochdiversitäts-Ländern bei. Im Rahmen der Senckenberg Taxonomy Grants können wir interessierten Forschern aus den Ursprungsländern finanzielle Unterstützung zur Bearbeitung des Materials in unseren Sammlungen gewähren. Zusätzlich ist Senckenberg in der Ausbildung über den internationalen Masterstudiengang Biodiversity and Collection Management mit der TU Dresden aktiv. In diesem englischsprachigen Studiengang werden fast ausschließlich außereuropäische Studierende zu den Grundlagen von Taxonomie und Museologie ausgebildet, wovon jährlich 2 Studierende ein Stipendium des Senckenberg-nahen Dietmar Schmid Education Fond erhalten.

Wir sind überzeugt davon, dass enge, partnerschaftliche Forschungskooperationen und die möglichst vollständige Sammlungsdigitalisierung die besonders geeigneten und wichtigsten Instrumente sind, um Herkunftsländer unserer Sammlungen bei der Entwicklung ihrer eigenen Forschungslandschaft und Sammlungen zu unterstützen. Im Sinne globaler wissenschaftlicher Kollaborationen Senckenbergs sehen wir den Austausch von Objektdaten und Digitalisaten, Wissenstransfer beim Ausbau von Infrastrukturen (Sammlungsaufbau, -management und -erhalt), Forschungskooperation mit Wissenschaftler*innen aus den Herkunftsländern und die Ausbildung von wissenschaftlichem Nachwuchs als entscheidende Elemente an, um eine zukunftsweisende Aufarbeitung des kolonialen Erbes zu ermöglichen. Grundsätzlich stehen die Senckenberg Sammlungen auch Wissenschaftler*innen aus den Herkunftsländern der Objekte uneingeschränkt zu Forschungszwecken zur Verfügung und werden von rund 700 Gastforscher*innen im Jahr genutzt.

Zusammenfassung der Handlungsempfehlungen:

  • Transparenz und Zugang zur Herkunft der Bestände
  • Digitalisierung und Veröffentlichung von Metadaten (Aquila, Sesam etc.)
  • Priorisierung der Sammlungsbestände nach historisch bzw. kulturell sensiblen Material: Abfrage zu solchem Material an Sammlungsgruppen
  • Rückführung menschlicher Überreste nach erfolgter Provenienzforschung.
  • Drittmitteleinwerbung für SGN-Pilotprojekte (v. a. Zentrum für Kulturgutverluste)
  • Förderung von Forschungs-, Ausbildungs- und Infrastrukturkooperationen mit Herkunftsländern (Hochschulpartnerschaften, BCM-Master, Taxonomy Grants etc.)

Literatur

Cawthorn, M. (2014). Report on the provenance of Aboriginal ancestral remains house at the Charité Medical University (Berlin), the Martin Luther University Institute for Anatomy and Cell Biology (Halle) and the Senckenberg Research Institute and Natural History Museum (Frankfurt).

Deutscher Museumsbund e. V. (2019). Leitfaden. Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten. [abgerufen am 07.07.2021]

Hansert, A. (2018). Das Senckenberg-Forschungsmuseum im Nationalsozialismus. Wahrheit und Dichtung. Göttingen.

Politics of Natural History. How to decolonize the Natural History Museum. Workshop in Berlin, 06.-07. September 2018. [abgerufen am 07.07.2021]

Schrenk, F., Kuper, A., Rahn, A.M., Eiser, I. (2018). Menschen in Sammlungen. Geschichte verpflichtet. Göttingen.

Sebuliba, S. (2020). Threatened Heritage – Evaluation of East African Natural History Collections amidst restitution debates – Cases from Uganda, Kenya and Rwanda. Peckiana 13: 1-52.

Sebuliba, S., Wesche, K., Xylander, W. (2021). Ready for Restitution? Meeting challenges of colonial legacies in Africa’s Collections. – BioScience 71 (4): 322–324 | https://doi.org/10.1093/biosci/biaa167.

Staatsministerin des Bundes für Kultur und Medien, Staatsministerin im Auswärtigen Amt für internationale Kulturpolitik, Kulturministerinnen und Kulturminister der Länder und kommunale Spitzenverbände (2019). Erste Eckpunkte zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten. [abgerufen am 07.07.2021]