Der erst 2019 in Kerala entdeckte Gollum Schlangenkopffisch Aenigmachanna gollum. Ichthyologie Dresden
Der erst 2019 in Kerala entdeckte Gollum Schlangenkopffisch Aenigmachanna gollum.

Ichthyologie

Forschung

Dresden

Die Fische sind mit mehr als 35000 beschriebenen Arten die bei weitem artenreichste Wirbeltiergruppe, wobei jedes Jahr mehr als 300 neue Fischarten wissenschaftlich beschrieben werden. Was ihre Vielfalt in Größe (von 8 mm großen geschlechtsreifen Karpfenfischen Paedocypris progenetica bis zum 18 m langen Walhai Rhincodon typus), Form (vom mehr als 1000 Wirbel besitzenden extrem langgestreckten Schnepfenaal Nemichthys scolopaceus bis zum seitlich zusammengepressten schwanzflossenlosen Mondfisch Mola mola) und Farbenreichtum (von der farblos durchsichtigen Danionella translucida bis zum psychedelisch gefärbten Mandarinfisch Synchiropus splendidus) angeht, so suchen sie unter den Wirbeltieren ihresgleichen.

Die Forschung in der Sektion Ichthyologie hier in Dresden beschäftigt sich mit vergleichender Anatomie, Phylogenetik und Taxonomie verschiedener Gruppen der Actinopterygier. Die Bandbreite der wissenschaftlichen Untersuchung reicht von generellen Fragen zur Evolutionsbiologie und Homologie und den Verwandtschaftsverhältnissen von Großgruppen der Actinopterygier, bis hin zu grundlegenden Problemen der Taxonomie und Systematik ausgewählter Taxa.

Unser primärer Ansatz fußt in der Morphologie, jedoch sind wir auch am Testen unserer morphologischen Hypothesen mit molekularen Methoden interessiert und wir haben diesbezüglich mehrere aktive Kooperationen. Taxonomisch liegt das Interesse bei den Süßwasserfischen Südasiens, besonders denen von Burma (Myanmar) und in den letzten Jahren auch denen von Indien, wobei aus beiden Ländern jedes Jahr eine Vielzahl an neuen Arten beschrieben wird. In dem wir traditionelle morphologische Ansätze mit neueren molekularen verbinden (integrative Taxonomie), gehen wir verschiedene taxonomische Fragen an. Diese taxonomischen Arbeiten fließen in weiterreichende Studien zur Biogeographie dieser hochinteressanten Regionen Asiens ein.

Die morphologischen Forschungsprojekte drehen sich um das Verhältnis von Ontogenese und Phylogenese/Evolution. Wir untersuchen wie sich Ontogenesen während der Evolution verändern und versuchen zu verstehen, wie hochkomplexe Organsysteme, wie z.B. die sogenannte ‚Schwanzflosse‘ des Mondfisches, der Webersche Apparat der Otophysen, oder, in der jüngsten Zeit, das Priapium der Kehlphallusfische, in der Evolution entstanden sind. Darüber hinaus untersuchen wir noch immer ungelöste oder umstrittene Fragen zur Homologie komplexer Strukturen, um damit ein besseres Verständnis über die Verwandtschaftsverhältnisse bestimmter Gruppen zu bekommen. Ein Forschungsgebiet, das uns in den letzten Jahren fasziniert hat, ist die Miniaturisierung bei Knochenfischen und deren anatomische und ontogenetische Folgen für den Organismus, besonders der Fall von extremer, organismusweiter Progenese (Entwicklungsverkürzung), wie man sie bei den extrem verzwergten Arten der Gattungen Danionella und Paedocypris findet. Hierbei spielen Studien zur Heterochronie eine entscheidende Rolle.

Die ichthyologische Forschung trägt zu dem Forschungsbereich Biodiversität und Systematik bei.

Ausgewählte Projekte

Die unterirdisch lebenden Fische der Aquifere der Western Ghats in Indien

Entlang des Küstensaumes der Western Ghats, einem parallel zur Westküste Südindiens laufenden Bergzug, hat sich eine endemische Fauna von Grundwasser bewohnenden Organismen entwickelt, mit bisher 10 verschiedenen Fischarten. Die erste Fischart aus diesem Habitat wurde bereits 1950 beschrieben, die jüngsten erst letztes Jahr (2019), darunter auch die spektakuläre neue Gattung und Art, Aenigmachanna gollum, der Gollum Schlangenkopffisch. In einem Kooperationsprojekt mit Rajeev Raghavan, Kerala University of Fisheries and Ocean Sciences in Kochi, Siby Philip, Nirmalagiri College in Kannur, und Neelesh Dahanukar, Indian Institute of Science Education and Research (IISER) in Pune, versuchen wir die Anatomie und phylogenetische Stellung dieser merkwürdigen Fischgestalten, sowie deren Populationsstrukturen zu erforschen.

Der blinde subterran in den Aquifers Keralas lebende Kiemenschlitzaal Monopterus digressus. Ichthyologie Dresden
Der blinde subterran in den Aquifers Keralas lebende Kiemenschlitzaal Monopterus digressus.
Der 2011 entdeckte unterirdisch lebende Wels Kryptoglanis shajii. Ichthyologie Dresden
Der 2011 entdeckte unterirdisch lebende Wels Kryptoglanis shajii.
Der blinde, pigmentlose Wels Horaglanis sp. Ichthyologie Dresden
Der blinde, pigmentlose Wels Horaglanis sp. (Foto: V. K. Anoop)
Das einzige unterirdisch lebende Dornauge, Pangio bhujia, wurde erst 2019 beschrieben. Ichthyologie Dresden
Das einzige unterirdisch lebende Dornauge, Pangio bhujia, wurde erst 2019 beschrieben.

Das Priapium der Kehlphallusfische- ein ontogenetisch und evolutiv höchst besonderes Kopulationsorgan

Die Phallostethiden sind mit etwas über 20 Arten eine nur kleine Gruppe der Atherinomorpha. Anatomisch jedoch fallen die nur 15-35 mm großen und vorwiegend durchsichtigen Fischlein sehr aus dem Rahmen. Männchen der Kehlphallusfische haben ihre Bauchflossen zu einem extrem asymmetrischen und anatomisch hochkomplizierten Begattungsorgan umgewandelt, dem Priapium. Dieses besteht aus mehr als einem Dutzend Knochenelemente, einer Anzahl von damit assoziierten Muskeln und nach vorne auf das Priapium verlagerte Urogenitalöffnungen und Anus, die asymmetrisch auf einer Körperseite liegen. Bei vielen Arten kommen sowohl Rechts- als auch Linksträger vor, bei denen sich das asymmetrische Priapium auf der einen oder anderen Körperseite, aber spiegelbildlich organisiert, unterhalb des Kopfes befinden kann. Dieses Projekt war während meiner Anstellung am Natural History Museum in London vom Leverhulme Trust gefördert und untersucht die Bildung des Priapiums in der Ontogenese und die mögliche entwicklungsgenetische Steuerung der Asymmetrie. Während wir einen guten Überblick über die Entwicklung des Skeletts des Priapiums haben, laufen die Auswertungen der entwicklungsgenetischen Ergebnisse bezüglich der Asymmetrie noch an. Das Projekt erfolgt in Kooperation mit Ariane Standing und Gareth Fraser von der University of Florida in Gainsville und Heok Hui Tan vom Lee Kong Chian Natural History Museum in Singapore.

Weibchen (oben) und Männchen (Mitte) des Kehlphallusfisches Neosthethus bicornis. CTscan Abbildung des Skelettes des Priapium (unten) in Ventralansicht zeigt die Komplexität der Vielzahl der Skelettelemente. Ichthyologie Dresden
Weibchen (oben) und Männchen (Mitte) des Kehlphallusfisches Neosthethus bicornis. CTscan Abbildung des Skelettes des Priapium (unten) in Ventralansicht zeigt die Komplexität der Vielzahl der Skelettelemente.

Organismusweite Progenese bei den Fischzwergen Paedocypris und Danionella

Die Angehörigen der Karpfenfischgattungen Paedocypris und Danionella gehören zu den kleinsten Fischen und Wirbeltieren und werden bei Längen von 8-10 mm geschlechstreif. Anatomisch sehen diese Fischlein den Larvenstadien anderer Fische ähnlich. Sie sind durch den Prozess der Progenese entstanden, der in diesem Fall fast den ganzen Organismus beeinflusst hat. Über 60 der noch bei nahe verwandten Arten, wie etwa dem Zebrabärbling Danio rerio, vorkommenden Skelettelemente fehlen Paedocypris und Danionella. Derzeitige Projekte schauen sich an wie (1) die Entwicklung dieser Fischzwerge vom evolutiven Prozess der progenetischen Heterochronie beeinflusst wurde und (2) suchen nach einem genomischen Fingerabdruck für Miniaturisierung und/oder Progenese. Die Untersuchungen laufen in Kooperation mit Kevin Conway, Texas A&M University, College Station, und Lukas Rüber, Naturkundemuseum Bern.

Zebrabärbling, Danio rerio (oben) und die extrem progenetische (entwicklungsverkürzte) Danionella dracula (unten, Foto Erwin Schraml) im Vergleich. Ichthyologie Dresden
Zebrabärbling, Danio rerio (oben) und die extrem progenetische (entwicklungsverkürzte) Danionella dracula (unten, Foto Erwin Schraml) im Vergleich.

Beschreibung neuer Fischarten

Darüber hinaus wird auch weiterhin die Beschreibung neuer Arten von Süßwasserfischen aus Myanmar und Indien in verschiedenen Kooperationen im Vordergrund stehen. Die jüngste Artneubeschreibung ist die eines Stachelaales aus Myanmar, Macrognathus orthosemos (unterste Reihe Mitte).

Eine Auswahl der mehr als 70 zwischen 1999 und 2020 wissenschaftlich neu beschriebenen Süßwasserfischarten. Ichthyologie Dresden
Eine Auswahl der mehr als 70 zwischen 1999 und 2020 wissenschaftlich neu beschriebenen Süßwasserfischarten.

Techniken, die für die verschiedenen Forschungsprojekte bisher angewendet wurden, umfassen das Anfertigen von Aufhellpräparaten (clearing and double staining), verschiedene Techniken der Lichtmikroskopie (Serienschnitte, Färbungen, Digitalfotografie), SEM (Glutaraldehyd Fixierung, Kritischer-Punkt-Trocknung, Bedampfung), TEM (Glutaraldehyd/Osmiumtetroxid Fixierung, Ultradünnschnitt). In verschiedenen Kooperationen der letzten Zeit kamen auch öfter Micro- und Nano-CT Scannen, in situ Hybridisierung und konfokale Mikroskopie zum Einsatz.