Fotos von Torben Riehl

Senckenberg packt aus

Was sich tief im Meer verbirgt


Bis zu 6,5 Millimeter lang, farb- und augenlos lebt Macrostylis metallicola mehrere tausend Meter unter der Wasseroberfläche. In der Dunkelheit der Tiefsee ist der kürzlich beschriebene Krebs umringt von Manganknollen – mehr oder weniger kugelförmigen Ablagerungen, die nicht nur Millionen von Jahre alt sind, sondern auch zunehmend in den Fokus wirtschaftlicher Interessen geraten. Bemerkenswert, neben der Menge von Wissenslücken, die es in Bezug auf die neue Art noch zu schließen gilt, sei vor allem diese Nachbarschaft – findet Tiefseeforscher Torben Riehl und hat sich davon bei der Namensgebung inspirieren lassen. Was die neu entdeckte Art mit dem Tiefseebergbau zu tun hat und wie man Weihnachten auf einem Forschungsschiff feiert, verrät der Meeresbiologe im Interview mit der Senckenberg Online-Redaktion.

Herr Riehl, Sie haben in Hamburg Biologie studiert und sich in Ihrer Promotion besonders mit der Evolution von Tiefsee-Organismen beschäftigt. Woher stammt die Faszination für das Meer und insbesondere für die Tiefsee?
 
Eigentlich war das eine Verkettung von Zufällen, gemischt mit großer Neugier für aquatische Lebensräume. Ich habe meine ganze Kindheit damit verbracht, irgendwelche Gewässer mit meinem Kescher nach Insektenlarven und anderen Tieren zu durchkämmen. Ich glaube ich war sechs Jahre alt, als mein Opa mich zum ersten Mal zum Angeln mitnahm. Schon damals hat mich total fasziniert, was man unter der Wasseroberfläche findet, da wo man es nicht sehen kann, im Dunkeln verborgen. Ich war aber nicht von vornherein auf die Tiefsee fixiert – die erschien mir irgendwie außerhalb meiner Reichweite. Während meines Studiums habe ich meinen Schwerpunkt auf aquatische Lebensräume gelegt und mich, dem Angebot in Lehre und Forschung entsprechend, hauptsächlich mit flachen Randmeeren und Binnengewässern beschäftigt. Es gab auch eine Zeit, in der ich mir sicher war, dass ich Herpetologe werden will.

Fotos von Torben Riehl
Tiefseeforscher und Krebstierspezialist Dr. Torben Riehl analysiert eine unbekannte Art am Konfokalmikroskop.

Wieso dann der Richtungswechsel hin zur Tiefsee?

Mein erster Berührungspunkt mit der Tiefsee war eine Anstellung als studentische Hilfskraft, bei der ich Tiefseeproben aus der Antarktis sortieren durfte. Eines Tages kam meine damalige Chefin Professor Angelika Brandt auf mich zu und sagte: ‚Torben, ich fahre im Winter mit der Polarstern in die Antarktis und da ist jemand abgesprungen. Willst du mit?‘  Ein Angebot, bei dem man nicht Nein sagen kann und das prägend für meinen Werdegang sein sollte. Frau Brandt ist übrigens auch heute bei Senckenberg wieder meine Chefin.

Wie lange waren Sie unterwegs?

Die Expedition mit der Polarstern war meine längste Reise und zog sich über elf Wochen, von Ende November 2007 bis Anfang Februar 2008.

Das heißt, Weihnachten und Silvester wurden auf dem Schiff gefeiert?

Naja, gearbeitet haben wir natürlich trotzdem – es gibt auf dem Schiff keine Feiertage, Wochenenden oder Nächte. Die Labore sind rund um die Uhr besetzt, man arbeitet immer dann, wenn man eingeteilt ist und es werden Proben genommen, sobald das Schiff die Zielkoordinaten erreicht. Natürlich haben viele Leute Heimweh und wünschen sich, gerade an Weihnachten bei den Liebsten zu sein. Damit die Feiertage nicht ganz untergehen, wurde der Einsatzplan so organisiert, dass sowohl an Heiligabend als auch an Silvester die letzte Tagesschicht am Nachmittag endete und das Schiff zur nächsten Station dampfen konnte. So blieb etwas Zeit zum Feiern.

Wie kann man sich Heiligabend auf der Polarstern vorstellen?

Den Umständen entsprechend sehr festlich: Wir hatten sogar einen Weihnachtsbaum, den wir im Kühlraum mitgenommen hatten. Silvester hat auch Spaß gemacht: Wir haben einen der großen Lagerräume auf dem Schiff in einen Partyraum verwandelt, alle möglichen Spiele organisiert, ein großes Buffet wurde aufgetischt und wir haben getanzt. In der Antarktis darf man natürlich kein Feuerwerk machen, aber um Mitternacht sind wir gemeinsam auf die Brücke gegangen: Nachts ist dort alles dunkel, bis auf die blinkenden Lichter der Instrumente und einen großen Scheinwerferkegel, der nach vorne auf den Ozean gerichtet ist.  Da standen wir, alle ein Glas Sekt in der Hand, und haben zugesehen, wie ein Eisberg im Dämmerlicht an uns vorbeizog – sehr beeindruckend. Die Party im Lagerraum ging danach allerdings nicht lange weiter: Irgendwann war der Seegang so stark, dass es zu gefährlich wurde und wir zurück in unsere Kammern mussten.

Apropos Kammern: Wie schläft es sich auf so einem Schiff?

Je nachdem: In der Regel gibt es für die erfahrensten Wissenschaftler*innen Einzel-Kabinen, wobei die Polarstern davon nicht allzu viele hat; die kommt aus den Zeiten, in denen Privatsphäre noch nicht ganz so groß geschrieben wurde wie heute. Ich war damals noch nicht einmal diplomiert und damit einer der der Rangniedrigsten. Zusammen mit zwei anderen Studenten habe ich mir die Isolierstation des Bordhospitals geteilt – elf Wochen lang.

Klingt gemütlich. Werden Sie überhaupt noch seekrank?

Man gewöhnt sich an einiges und wenn ich alle Expeditionen zusammenzähle, habe ich über ein Jahr meiner Lebenszeit auf einem Schiff verbracht. Aber es kommt natürlich immer darauf an; das Südpolarmeer ist bekannt für seine raue See und während der Expedition hat dreimal ein Orkan gewütet – teilweise mit Wellen so hoch wie das Schiff. Alles wackelt dann und an schlafen ist kaum zu denken. Da muss man einfach liegen, alle Viere von sich strecken und hoffen, dass man nicht aus dem Bett rollt (lacht). Aber richtig schlecht wurde mir zum Glück nie.

Kommen wir nun zu Ihrer aktuellen Forschung: Kürzlich haben Sie eine neue Krebsart beschrieben, Macrostylis metallicola. Diese kommt in der Tiefsee vor, mehrere tausend Meter unter der Oberfläche. Erinnern Sie sich an den Moment, in dem Ihnen bewusst wurde, dass es sich um eine bisher unbekannte Art handelt?

Wenn man in der Tiefsee probt, kann man davon ausgehen, dass ein großer Teil der gesammelten Tiere, vor allem der kleinen, die das Gros der Organismen am Meeresboden ausmachen, aus neuen Arten besteht. In vielen Tiefseeregionen ist es eher eine Überraschung, wenn etwas schon beschrieben ist. Mein Kollege und Co-Autor Bart de Smet von der Universität Gent kontaktierte mich als Asselexperten, nachdem er Tiefseeproben aus dem Pazifik analysiert hatte, in welchen einige Asselarten enthalten waren und bestimmt werden mussten. Wir gingen eine Kollaboration ein und arbeiteten gemeinsam an dem Forschungsprojekt, in dem die Lebensgemeinschaften in einem Gebiet im östlichen Pazifik erforscht werden sollten; eine Umweltverträglichkeitsstudie, die von einem belgischen Bergbauunternehmen initiiert worden war. Dabei entdeckte ich unter dem Mikroskop eine Art der Gattung Macrostylis, von der ich aufgrund meiner langjährigen Erfahrung mit dieser Gattung auf den ersten Blick sagen konnte, dass es sich um etwas Neues handelte.  

Bergbau? Wie passt das zur Erforschung der Tiefsee?

Macrostylis metallicola lebt inmitten von Manganknollen. Das sind Klumpen aus verschiedenen Metallverbindungen, die etwas größer als eine Orange werden und halb eingegraben in Tiefen von vier- bis fünftausend Metern am Meeresgrund vorkommen. Sie sind Millionen von Jahren alt und fangen ganz klein an: Es gibt immer einen Keim, etwa ein Muschelsplitter oder ein Haifischzahn. An diesem lagern sich im Meerwasser gelöste Metalle an, auch Mikroorganismen spielen dabei eine Rolle. Wir sprechen hier von Manganoxiden, Eisenoxid und anderen wertvollen Elementen wie Kobalt und Nickel. Gerade letztere sind sehr bedeutend für die Industrie, insbesondere heute, in Zeiten der Digitalisierung, Urbanisierung und der Energiewende. Man benötigt diese Elemente für alles, was mit Halbleitern zu tun hat: Elektroautos, Handys, Computer, auch Windkraft. Die Elemente sind an Land nur begrenzt und an wenigen Orten verfügbar; seltene Erden in China, Kobalt im Kongo. Viele Staaten und Unternehmen möchten sich wirtschaftlich von diesen Monopolen lösen und ihrem Bedarf mit Rohstoffen aus der Tiefsee nachkommen.

Das klingt zunächst einmal logisch. Die Manganknollen liegen dort jedoch schon eine ganze Weile – wieso wird ihr Abbau gerade jetzt geplant?

Das stimmt, bereits seit den 1960ern ist klar, dass die Manganknollen am Meeresgrund liegen und sehr wertvoll sind. Die Technik war jedoch bisher nicht so weit, als dass der Abbau wirtschaftlich Sinn ergeben hätte. Mittlerweile hat sich das geändert. Die Technik hat sich weiterentwickelt und dazu kommt, dass der Preis für die an Land geförderten Rohstoffe sehr hoch ist.

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Tiefseeproben sind häufig voller Tiere ohne Namen. Dieses namenlose Tier gehört zur Gattung Macrostylis. Es enstammt dem tropischen Nordatlantik und wurde während der Vema-TRANSIT-Expedition 2015 gesammelt.
Pm Metallica 27.02.2020 Logo
Künstlerische Darstellung von Macrostylis metallicola – eine Tiefsee-Krebsart, die zu Ehren der Rockband Metallica benannt wurde.

An dieser Stelle müssen Sie uns auch nochmal die Geschichte hinter dem Namen, Macrostylis metallicola, erzählen. Eine Mischung aus Umweltbewusstsein und einer Leidenschaft für Heavy Metal?

‚Metallicola‘ bedeutet Metallbewohnerin, ist also eine Referenz zum Lebensraum der Spezies. Die Idee, den Namen der Band Metallica zu widmen, kam erst später. Aber es bot sich natürlich an. Ich habe Metallica früher viel gehört und tue das heute noch. Ich dachte, durch meine Widmung könnte ich vielleicht etwas Aufmerksamkeit wecken, auch bei Leuten, die sich sonst nicht so viel mit diesen Themen auseinandersetzen. Denn man kann ganz sicher davon ausgehen, dass in den nächsten zehn bis fünfzehn Jahren Firmen anfangen werden, in der Tiefsee Manganknollen abzubauen – und ohne negative Auswirkungen auf das Ökosystem geht das nicht. Deswegen ist es wichtig, dass Maßnahmen getroffen werden, um das Ganze möglichst nachhaltig zu gestalten. Meine Idee war also, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: Einerseits die Lieblingsband meiner Jugend zu ehren und andererseits, Aufmerksamkeit für die Situation zu schaffen: Dass da ein großer Eingriff in das Ökosystem stattfinden wird, dessen Auswirkungen wir bei der Planung berücksichtigen müssen.

Um was für negative Auswirkungen auf das Ökosystem geht es hier konkret?

Die Technologie ist noch in Entwicklung, aber egal welche Strategie – einsaugen, raushaken, nach oben pumpen – schlussendlich am erfolgreichsten ist, es werden dafür riesige Gefährte benötigt. Der Meeresboden wird umgepflügt und zum Teil ganz entfernt werden. Sprich, dort wo die Manganknollen abgebaut werden, wird alles zerstört.
Auch die Staubwolke ist ausschlaggebend: Wenn ein Fahrzeug am Meeresgrund entlangfährt und dabei Sediment aufwirbelt, kann dieses durch die Strömung über hunderte Kilometer verbreitet werden, sich irgendwo niederlegen und dort alles unter sich begraben. Das trifft vor allem sessile Lebewesen, Schwämme zum Beispiel – mal davon abgesehen, dass sie, wenn sie an ein Leben auf Manganknollen angepasst sind, ihre Anheftungsstelle verlieren. Es gibt unzählige Dinge, die es zu berücksichtigen gilt.

Welche Aufgabe kommt hier der Wissenschaft zu?

In internationalen Gewässern gibt es erstmal keine Regeln. Damit dort kein Raubbau betrieben wird, haben die Vereinten Nationen eine Behörde, ISA (International Seabed Authority), ins Leben gerufen. Diese verfasst Empfehlungen und Regularien, nach denen sich die ganzen Interessenten richten müssen. Im Bereich des Nordostpazifik wurden bereits Lizenzen vergeben: Deutschland, Russland und Belgien besitzen zum Beispiel welche. Der Vertragszeitraum beläuft sich zunächst auf 15 Jahre, in denen die Rohstoffvorkommen erkundet werden können, immer verbunden mit Umweltverträglichkeitsstudien und Risikobewertungen. Dafür müssen die Unternehmen oder Staaten – im Falle von Deutschland die BGR (Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe) – Geld in die Hand nehmen und Forschungsprojekte finanzieren.
Im Grunde genommen dreht sich alles um die Frage, wieviel des Ökosystems erhalten bleiben muss, damit eine Wiederbesiedlung des Gebiets möglich ist und welche Rolle dabei die Manganknollen selbst spielen. Dazu muss jedoch zunächst erforscht werden, welche Arten es überhaupt gibt, wo diese vorkommen und welche Rolle die jeweiligen Organismen innerhalb des Ökosystems spielen. Das braucht Zeit, weil wir das Ökosystem kaum kennen – das sieht man daran, dass die meisten Arten dort unten noch keinen Namen haben.

Das heißt also: Die Wirtschaft möchte so schnell wie möglich mit dem Abbau beginnen, während die Wissenschaft Zeit benötigt, um fundierte Empfehlungen für einen nachhaltigen Abbau zu geben?

So ungefähr. Die Empfehlungen der Wissenschaftler sind noch im Werden; die Studien laufen und weitere werden folgen. Mein Bauchgefühl sagt mir, man muss eher zu viel als zu wenig Gebiete zu Schutzzonen ernennen. Denn dort, wo der Bergbau stattfindet, wird dies auf jeden Fall Konsequenzen haben. Mir ist aber auch klar, dass wir uns da in einer Zwickmühle befinden.  Wir wollen ja auch auf Atom- und Kohlekraft verzichten. Wir wollen am liebsten eine Kreislaufwirtschaft und 100 Prozent Recycling. Da sind wir aber noch nicht. Jetzt gerade brauchen wir Solar- und Windkraft; Zugtrassen werden ausgebaut, Autos elektrifiziert, neue Energiespeicher entwickelt – darüber hinaus ist die Urbanisierung weiterhin in vollem Gange. Das erfordert Elemente wie Kobalt und Nickel, und scheinbar immer mehr davon.

Sehen Sie mit Sorgen in die Zukunft?

Klar. Wenn ich vor einem Tagebau stehe, oder ansehe, wie auf Madagaskar Titanoxid abgebaut wird, dann lässt mich das nicht kalt. Das sind ganz klar starke Eingriffe in die Natur. Und das hat Auswirkungen auf die Biodiversität und Ökosysteme. Natürlich bin ich dafür, dass die Verluste möglichst begrenzt werden. Aber ich sehe auch die Notwendigkeit, die Prozesse, die gerade angestoßen wurden, und den technologischen Fortschritt voranzubringen.  Der Manganknollenabbau wird passieren, aber es gilt Druck zu machen, damit so viele Maßnahmen wie möglich ergriffen werden, auch wenn sie teuer sind, um die Einflüsse auf die Umwelt so gering wie möglich zu halten.

Zur Person

Dr. Torben Riehl ist PostDoc am Senckenberg Forschungsinstitut Frankfurt. In der Abteilung Marine Zoologie befasst er sich vor allem mit der Gruppe der Crustaceen (Krebstiere). Sein Ziel ist es, durch die Erforschung ihrer Verbreitung, Stammesgeschichte und Taxonomie Rückschlüsse auf die Evolution der Biodiversität im Abyssal zu ziehen.