Interview mit Prof. Dr. Karsten Wesche zur digitalen Zukunft der Senckenberg-Sammlungen
Die Sammlungen von Senckenberg bilden die größte naturkundliche Sammlungslandschaft in Deutschland. Insgesamt umfasst sie etwa 40 Millionen Zähleinheiten. Wie man die aufbewahrt, welche Möglichkeiten die technischen Entwicklungen der letzten Jahre für die Arbeit mit der Sammlung eröffnet haben und wie die Digitalisierung die Forschungsarbeit revolutioniert, darüber haben wir mit Karsten Wesche gesprochen. Der Leiter der Abteilung Botanik am Standort Görlitz ist im Senckenberg-Direktorium zuständig für Forschungsinfrastrukturen und damit auch für die Sammlungen.
Herr Wesche, Sie leiten am Senckenberg-Standort Görlitz die Abteilung Botanik – womit befassen Sie sich bei Ihrer Arbeit?
Ich bin Pflanzenökologe und beschäftige mich mit Naturschutzbiologie: Wo sind Pflanzen selten und wie kommt es dazu? Mich interessieren die sogenannten „Treiber“, die das beeinflussen: vor allem die Landnutzung und, immer wichtiger, das Klima. Meine Hauptarbeitsräume liegen dabei im Offenland, also Weide- oder Ackersysteme, vor allem in Mitteleuropa und in Zentralasien − Tibet, die Mongolei und Teile von China.
Am Institut in Görlitz beschäftigen wir uns außerdem unter anderem mit Evolutionsbiologie der heimischen Flora und erstellen auch Bestimmungshilfen und Informationsangebote, unser wichtigstes Projekt ist der „Rothmaler“, die führende deutsche Flora zur Bestimmung von Pflanzen, ein dickes Buch mit Bestimmungsschlüsseln.
Sie gehen für ihre Forschung also raus in die Natur?
Ja, wir sind Geländebotaniker*innen und uns alle eint, dass wir eine Sammlung verantworten, genau genommen vier: höhere Pflanzen, Moose, Flechten und Pilze. Diese Sammlungen sind nicht nur zu hegen und zu pflegen, sondern auch zu vermehren. Allein deshalb gehen wir raus, aber natürlich auch, weil unsere Forschungsfragen ganz aktuell sind und wir dafür aktuelle Eindrücke gewinnen müssen.
Als Mitglied des Senckenberg-Direktoriums sind Sie zuständig für alle Sammlungen. Was ist das besondere an den Sammlungen von Senckenberg? Und was umfassen sie?
Unsere Sammlungen sind zunächst einmal sehr umfangreich. Wenn man die Sammlungen an allen Standorten zusammennimmt, gehen wir grob von 40 Millionen Zähleinheiten aus. Tiere, Pflanzen, Pilze. Riesig viel. Als Gesamtkomplex die größte deutsche naturkundliche Sammlungslandschaft. Sie ist auch sehr umfangreich, was die bearbeiteten Gruppen angeht: Senckenberg hat als einziges der großen deutschen Forschungsmuseen neben zoologischen Sammlungen auch in nennenswertem Umfang Pilze und Pflanzen. Wir haben Land und Meer, Süßwasser und Salzwasser. In vielen Teilen sind die Sammlungen auch zeitlich sehr tief gestaffelt, bis zu 200 Jahre.
Wie werden die Objekte aufbewahrt?
Sehr unterschiedlich, weil das Material sehr unterschiedlich ist. Pflanzen, flach getrocknet, kann man aufbewahren wie Papier, in Regalen und Rollschrankanlagen. Auch Schädel sind anspruchslos. Es wird immer problematischer, je mehr Gewebe noch dran ist. Wir haben riesige Alkoholsammlungen; Schnecken beispielsweise kann man schlecht trocknen, die kommen in Alkohol. Diese Sammlungen müssen natürlich anders aufbewahrt werden, da geht es um Abluft von Alkohol, um Explosionsschutz. Viele Dinge werden heute auch erstmal gefroren, weil man noch genetische Analysen durchführen möchte. Pauschal kann man sagen: Je länger Material aufbewahrt werden soll, desto einfacher muss die Methode sein. Es ist schwer vorstellbar, über Jahrtausende Kühlketten mit minus 80°C aufrecht zu erhalten.
Wir kommen in die Ära von „Collectomics“, in der wir mit Omics-Verfahren – Genomik, bildgebende Verfahren usw. − Daten erzeugen für das gesamte Collectom.
Was bedeuten die technischen Entwicklungen der letzten Jahre für die Arbeit mit den Sammlungen − welche Möglichkeiten haben sich hier eröffnet?
Die Umwälzungen sind vollkommen fundamental. Durch die digitale Revolution haben wir völlig neue Möglichkeiten der Datengenerierung. Wir können Zehntausende von Herbarbelegen in kurzer Zeit scannen, Spektralanalysen machen, im Bereich jenseits des sichtbaren Lichts. Wir können Röntgen- und in ganz anderem Maß als früher chemische Analysen durchführen. Ohne das Sammlungsmaterial zu zerstören! Früher hätte man alles pulverisieren müssen. Diese technische Revolution macht eine ganz neue Art der Arbeit möglich und setzt die Sammlung auch vollkommen neu in Wert.
Früher hätte man von A nach B fahren müssen, um unser Sammlungsmaterial zu sehen. Heute bauen wir europaweit mit weit über 100 Institutionen daran, digitale Netzwerke zu schaffen, die ihre Daten gezielt austauschen. Was heute mit genomischen Methoden möglich ist, wäre vor acht Jahren noch Science Fiction gewesen. Wir kommen in die Ära von „Collectomics“, in der wir mit Omics-Verfahren – Genomik, bildgebende Verfahren usw. − Daten erzeugen für das gesamte Collectom.
Stichwort Digitalisierung – vor welchen Herausforderungen steht man beim Digitalisieren einer naturwissenschaftlichen Sammlung?
Die erste Frage ist: Haben Sie etwas zwei-, oder dreidimensionales? Für Pflanzen auf Papier können Sie Buch-Digitalisierungsgeräte benutzen. Sobald es dreidimensional wird, wird es aufwendiger. Man kann außen herumfahren für einen Laser-Scan, hat aber damit die Binnenstruktur noch nicht gesehen, man möchte ja auch wissen, wie es im Schädel aussieht. Wirklich problematisch sind die großen Sammlungen, bei denen man viele Belege in einem Glas hat – Milben! Wenige Millimeter groß, in einem Reagenzglas schwimmen Tausende. Oder ein Insektenkasten voll kleiner Käfer, teilweise übereinander gestapelt. Bei Senckenberg haben wir Millionen von Insekten in solchen Kästen. Das Museum für Naturkunde in Berlin hat eine tolle neue Digitalisierungsstraße, da fassen sie die Insekten händisch an – das ist wunderbar, aber schwer darstellbar im Maßstab von Millionen. Aber Künstliche Intelligenz und Robottechnik entwickeln sich rasant. Warum soll nicht auch ein Roboterarm in einem Insektenkasten herumfahren? Das ist nur eine Frage der Zeit.
An welchem Punkt steht Senckenberg bei der Sammlungsdigitalisierung?
Auf den ersten Blick wirken die Zahlen ernüchternd: Allein der digitale Katalog mit basalen Informationen, noch ohne Foto, ist für etwa 10 % aller Belege verfügbar. Das klingt nach gar nichts, sind aber bereits Millionen. Dabei ist Senckenberg im Vergleich noch gut aufgestellt, weltweit sind es im Durchschnitt eher 3−5 %. Ein gigantischer Bereich unerfasster Daten. Bei Fotos oder Röntgenscans sind wir ebenfalls im siebenstelligen Bereich.
Wie priorisieren Sie dabei?
Momentan digitalisieren wir gezielt das, von dem wir denken, dass es für die Gesellschaft, für Citizen Scientists oder bestimmte Forscher*innengruppen von Interesse ist. Wir haben zum Beispiel ein virtuelles Herbarium unserer heimischen Flora ins Netz gestellt. Oder Typen: Jede Art ist ja einmal beschrieben worden anhand eines „Urbelegs“, des sogenannten Typus, quasi der Urmeter dieser Art. Diese Typen hat man weltweit fast vollständig digitalisiert. Das ist für die Biodiversitätsforschung von besonderer Bedeutung
Welche neuen Chancen und Möglichkeiten bietet die Digitalisierung der Sammlungen – aktuell und in Zukunft?
Wir können ganz neue Typen von Daten aus den Sammlungsbelegen rausholen: Genetik, chemische Konstitution, morphologische Struktur, Oberflächenstruktur. Früher hätte man nur draufgeguckt. Diese Daten kann man verknüpfen, vernetzen und frei fließen lassen
Stellen Sie sich vor, man würde wissen wollen: Die Wölfe, die in Deutschland jetzt herumlaufen − sind die repräsentativ für die ursprüngliche europäische Wolfspopulation? Sind sie anders als die nordamerikanischen? Man könnte sich mit einem Klick einen Schädel aus Nordamerika neben einen Schädel aus Deutschland stellen. Und dazu hätte man die DNA, Verbreitungsdaten, das Sammelereignis. Oder man sieht sich die tropischen Regenwälder an: Haben sie ähnliche Blattformen? Hat ein südamerikanischer Regenwald ähnliche Pflanzentypen wie eine afrikanischer? Sind alle stickstofflimitiert?
Vieles wird mit der Big-Data-Ebene jetzt erst so langsam möglich. Wir waren beteiligt an einer Modellierung von Blattgrößen weltweit, eine riesige Kooperation. Das wäre vor 10 Jahren überhaupt nicht vorstellbar gewesen. Ich bin sicher, es wird ganz ähnlich sein wie beim Human Genome Project: Je mehr Möglichkeiten man schafft, desto klarer sieht man, was man damit tun kann. Was noch möglich sein wird, übersteigt das, was wir uns im Augenblick vorstellen können.
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