Senckenberg-Thema

Taxonomie für Nachhaltigkeit


Weltweit arbeitet eine vergleichsweise kleine Gruppe von Wissenschaftler*innen, die Taxonomen, an der Bestimmung aller existierenden Spezies. Die meisten dieser Spezies sind immer noch unbekannt, vor allem im Bereich der Tiefsee. Die Gesundheit unserer Biosphäre ist abhängig von der Artenvielfalt unserer Erde und den biologischen Interaktionen der Arten mit unserer gemeinsamen Umwelt. 

Der Klimawandel und andere vom Menschen verursachte Umweltveränderungen gefährden bestehende sowie noch unentdeckte Arten. Dr. Kai Horst George vom Institut Senckenberg am Meer erklärt, wo die Taxonomie hier helfen kann und wie die Arbeit von Taxonomen im Alltag aussieht. 

Dr. George, Sie sind Fachgebietsleiter des Fachbereiches Meiobenthonische Arthropoda. Womit beschäftigen Sie sich tagtäglich, und welche Rolle spielt die Taxonomie bei Ihrer Arbeit?

Wissenschaftlich widme ich mich vor allem zwei Themen: Der Systematik von bestimmten marinen benthonischen, also bodenlebenden Ruderfußkrebsen, den Copepoda Harpacticoida, und der Frage, ob Seeberge und ozeanische Inseln bei der Ausbreitung dieser winzigen Ruderfußkrebse in den Meeren eine maßgebliche Rolle spielen. In diesem Zusammenhang beschreibe ich auch wissenschaftlich unbekannte Arten, die ich in gesammeltem Material von Seebergen, Inseln, der Tiefsee und anderen ozeanischen Gebieten finde. Überdies vergleiche ich die auf Seebergen und an Inseln vorkommenden Gemeinschaften von Ruderfußkrebsen miteinander, um festzustellen, ob sie sich mit Blick auf die Artenzusammensetzung und –diversität unterscheiden, und ob es Arten gibt, die in den Meeren weit verbreitet sind. Für mich als ausgebildetem Zoomorphologen ist das Forschungsfeld der Taxonomie unerlässlich; eine fundierte und umfassende Artenkenntnis ist Bedingung dafür, dass man gefundene Organismen anhand ihrer Gestalt, der Ausprägung bestimmter Merkmale und geschlechtsspezifischer Unterschiede eindeutig einer bereits bekannten Art zuordnen oder als „neue“, also als wissenschaftlich unbekannte Art erkennen kann. Das ist wesentlich sowohl für meine Forschung im Bereich Systematik als auch in der Faunistik.

Was war Ihre bisher spannendste und kniffligste “Aufgabe“?

Ich habe gerade die Arbeit an einem Manuskript abgeschlossen, das eine sehr umfang- und folgenreiche systematische Überarbeitung einer Gruppe von Harpacticoida behandelt, den Ancorabolidae Sars, 1909. Dabei erstreckt sich diese Arbeit, die auf konsequent-phylogenetischen Grundlagen basiert und ausschließlich morphologische Merkmale berücksichtigt, allerdings zwangsläufig über die Ancorabolidae hinaus und umfasst weitere Harpacticoida, die in einem vermuteten Verwandtschaftsverhältnis zu erstgenannten stehen. Diese Arbeit hat mich im vergangenen Jahr stark beansprucht, weil es galt, viele Merkmale innerhalb einer sehr großen Gruppe von Ruderfußkrebsen zu sammeln und miteinander zu vergleichen, um auf diese Weise zu versuchen, das natürliche Verwandtschaftssystem dieser Tiere zu erkennen. Dazu musste ich mich neben dem unmittelbaren Vergleich der Tiere selbst auch mit einer Fülle an Literatur beschäftigen, mit Bestimmungsschlüsseln, mit Artbeschreibungen, die teilweise weit ins 19. Jahrhundert zurückreichen, und mit systematischen Revisionen anderer Kolleginnen und Kollegen aus früheren Zeiten. Das war ungemein spannend, und diese Arbeit erinnert mich immer an die eines Detektivs, der akribisch allen Hinweisen und Spuren folgen muss, um einen Fall zu lösen.

Über die Bedeutung der Taxonomie und wie wir sie fördern können. Den Text zum Mitlesen auf Deutsch finden Sie unten. 

In Ihrem Video über die Bedeutung von Taxonomie sprechen Sie unter anderem darüber, wie viele Arten bisher noch unentdeckt sind. Was hat das für eine Bedeutung für unsere Forschung und in Konsequenz auch für uns als Gesellschaft?

Wir wissen heute, dass die Zahl der bisher bekannten Organismenarten auf unserer Erde – knapp zwei Millionen – nur einen Bruchteil der tatsächlich existierenden Arten ausmacht. Schätzungen zufolge liegt deren Anzahl bei mehreren bis vielen Millionen! Jede einzelne dieser Arten, von den größten bis hin zu den kleinsten Vertretern, wirkt unmittelbar in ihrem jeweiligen Ökosystem und trägt durch ihre Beziehung zu ihrer Umwelt und den übrigen Arten zu einer gewaltigen und sehr komplexen Vernetzung aller Ökosysteme des Planeten bei, die wir als „Biosphäre“ bezeichnen. Der Mensch, der erst in jüngerer Vergangenheit begonnen hat, diese Komplexität zu erkennen, trifft aus vielerlei Gründen (angestrebter wirtschaftlicher Erfolg, Konsumsteigerung, Kostenminimierung usw.) viel zu oft vorschnelle Entscheidungen im Umgang mit seiner Umwelt. Das hat sehr häufig fatale Folgen für dadurch in Mitleidenschaft gezogene Ökosysteme und die dort verwurzelten Organismen. Als Beispiele seien das Abholzen tropischer Regenwälder, die Vermüllung der Ozeane oder der übermäßige Einsatz von Pestiziden in der industriellen Landwirtschaft genannt. Sie führen zu einem Artensterben von nie dagewesenem Ausmaß, zum Klimawandel und zur dramatischen Schädigung des (Grund-)Wassers. Sind aber die Ökosysteme und ihre biologischen wie nicht-biologischen Komponenten geschwächt oder gar vernichtet, führt das zu einem Kollaps der Biosphäre und damit letztlich auch zur Vernichtung unserer eigenen Lebensgrundlage.

Wie kann die Taxonomie dabei helfen, die Biodiversität unserer Erde zu schützen, und auf welche Missstände macht sie aufmerksam?

Die Taxonomie ist meiner Auffassung nach das Fundament für alle weitergehenden biologischen und ökologischen Studien. Wir können das Leben und alle damit einhergehenden Wechselwirkungen, die auch durch uns selbst maßgeblich beeinflusst werden, nur begreifen, wenn wir auch die biologischen Komponenten, sprich: die Arten kennen! Dabei reicht es nicht, zu wissen, wie viele Arten irgendwo vorkommen, was heutzutage häufig mit Hilfe genetischer Methoden angestrebt wird. Damit können zwar gewisse Aussagen zur Artendiversität gemacht werden, das komplexe Gefüge aber wird so nicht erkannt. Hier hilft uns die Taxonomie, insbesondere die morphologische Taxonomie, weiter. Die Benennung und detaillierte Beschreibung von Arten macht diese nämlich nicht nur „greifbar“, sondern sie gestattet es, anhand der genauen Dokumentation auch der artspezifischen Strukturen (Bau von Extremitäten, Mundwerkzeugen, inneren Organen) systematische, evolutive, funktionsorientierte, biogeographische und ökologische Fragen anzugehen. Zudem ist es nur mit Hilfe der morphologischen Taxonomie möglich, auch Fossilien, also einen großskaligen zeitlichen Aspekt in Untersuchungen einzubeziehen. Schlussendlich ist die Taxonomie auch für den Artenschutz relevant, denn gezielter Artenschutz ist nur machbar, wenn die zu schützende Art auch bekannt ist. Der Umstand, dass wir erst einen Bruchteil der Arten kennen, die unsere Erde bevölkern, führt in Verbindung mit unserem unbekümmerten, ja skrupellosen Umgang mit unserer Umwelt dazu, dass wir als erste Spezies einen Kollaps der Biosphäre heraufbeschwören. Darauf aufmerksam zu machen, ist auch Aufgabe der Taxonomie.

Wie kann die Zukunft der taxonomischen Forschung (in Deutschland, aber auch international) gestärkt werden, und vor was für Herausforderungen steht die Taxonomie in Zeiten der Digitalisierung und Vernetzung?

Um der Taxonomie sowohl innerhalb der naturwissenschaftlichen Gemeinschaft als auch in der ganzen Gesellschaft wieder den Stellenwert zukommen zu lassen, den sie bis vor wenigen Jahrzehnten noch innehatte, ist es vor allem wichtig, dieses faszinierende und so wichtige Forschungsfeld wieder bekannt zu machen. Dazu soll auch das erwähnte Video beitragen. Wir brauchen unbedingt wieder Nachwuchs vor allem in der morphologisch ausgerichteten taxonomischen Forschung. Dazu ist es notwendig, morphologische Taxonomie wieder in den Lehrplänen der Universitäten zu verankern, entsprechende Professuren und Mitarbeiterstellen einzurichten und finanzielle Mittel bereitzustellen. Museen müssen sich wieder bewusst machen, dass ihre Sammlungen einzigartige Schätze sind, die dazu beitragen, die Komplexität der Biosphäre und der sie strukturierenden Wechselwirkungen zu begreifen. In Museen und entsprechenden Forschungsinstituten beschäftigte morphologische Taxonominnen und Taxonomen dürfen nicht mehr als „angestaubte“, ja obsolete Relikte einer vergangenen Zeit angesehen werden. Vielmehr müssen sich die entsprechenden Einrichtungen klarmachen, dass gerade sie mit der morphologischen Taxonomie ein Forschungsfeld an der Hand haben, das besonders in heutiger Zeit von einem schier unschätzbaren Wert ist, um die über uns hereinbrechenden Probleme angehen zu können. Die in das Video gesetzte Hoffnung ist, dass auch die Bevölkerung dies so sehen möge und ihrerseits begänne, Druck auf die Verantwortlichen auszuüben. Neue Technologien (Digitalisierung, molekulare Taxonomie) sind hier willkommene und sehr hilfreiche Ergänzungen: Im Rahmen der „Integrativen Taxonomie“ besteht die Möglichkeit, traditionelle mit modernen Methoden zu verknüpfen und so die Erfassung der Biodiversität und das Verständnis unserer Biosphäre maßgeblich voranzubringen.

Mitlesen zum Video

Viele Millionen Arten bewohnen unseren Planeten und erzeugen ein höchst vielfältiges, aber zerbrechliches Netzwerk biologischer Wechselwirkungen mit der Umwelt: die Biosphäre!
Die meisten dieser Arten sind jedoch noch unbekannt, insbesondere in der Tiefsee. Dies, in Verbindung mit dem zunehmenden Einfluss des Menschen, gefährdet die Biosphäre – die Grundlage für das Überleben der Menschheit. Überall auf der Welt arbeitet eine vergleichsweise kleine Gruppe von Experten hart daran, unser Wissen über die Biosphäre zu erweitern: das sind die Taxonomen!

Unter Anwendung einer Vielzahl von Methoden und Technologien registrieren, beschreiben und studieren Tiefsee-Taxonomen weltweit Arten und schaffen so unverzichtbares Wissen, das für die weitere biologischen Forschung benötigt wird. Die Taxonomie bietet keinen direkten wirtschaftlichen „Nutzen“ für den Menschen; sie wird daher in unserer kurzsichtigen, gewinnorientierten Gesellschaft oft als irrelevant oder unnötig angesehen. Aber die Zeit wird knapp – das rasche Aussterben von Arten durch menschliche Aktivitäten verringert die biologische Vielfalt.

Wenn unsere empfindliche Biosphäre zusammenbricht, wird die Menschheit unweigerlich folgen. Daher ist eine Stärkung der Wissenschaft der Taxonomie dringend erforderlich. Universitätsplätze, Professuren, Arbeitsplätze und ausreichende finanzielle Unterstützung für Taxonomen sind dringend erforderlich! Deshalb fördern Sie bitte die Taxonomie und unterstützen Sie die Taxonomen durch Gespräche mit Ihrer Familie, Freunden, Nachbarn, lokalen Gemeinden und Schulen, nationalen Politikern und Informieren Sie sich über das Thema!

Um die biologische Vielfalt zu erhalten, fördern Sie die Taxonomie – es ist höchste Zeit!