Kleine Tierchen, große Wirkung.

„Mich fasziniert ihre immense Anpassungsfähigkeit“

Interview mit Dr. Karin Hohberg, Sektionsleiterin Nematoda


Der Boden: ein unglaublich vielfältiger Lebensraum, den wir im Alltag kaum wahrnehmen. Dabei tummeln sich unter der Erde nicht nur die allseits bekannten Regenwürmer, sondern unzählige weitere, oft mikroskopisch kleine Lebewesen – darunter die sogenannten Fadenwürmer. Im Interview erklärt Dr. Karin Hohberg, Sektionsleiterin Nematoda bei Senckenberg, alles über die kleinen Tierchen mit der großen Wirkung: Wie viele Arten gibt es? Wie bekommt sie die Fadenwürmer ins Labor und wie werden sie dort analysiert? Und was würde passieren, wenn sie auf einmal von der Erde (oder genauer: aus den Böden) verschwinden würden? 

Frau Hohberg, Sie beschäftigen sich mit Fadenwürmern. Was begeistert Sie an diesen winzig kleinen Tierchen, die man mit dem bloßen Auge nicht sieht?

Mich fasziniert ihre immense Anpassungsfähigkeit. Sie sind ja winzig, ausgesprochen dünnhäutig und für ihr aktives Leben auf einen dünnen Wasserfilm angewiesen, der sie umgibt. Und trotzdem haben sie beinahe alle Lebensräume auf unserem Planeten erobert. Nur Wasser und Luft werden von ihnen nicht dauerhaft besiedelt. Aber in Böden, Moospolstern, Nadel- und Laubstreu und in den Sedimenten von Meeren, Flüssen und Seen sind Fadenwürmer dafür überaus individuen- und artenreich vertreten. Wir finden sie auch an Orten, die für Wassertiere absolut ungeeignet erscheinen: in antarktischen Böden, die nur wenige Tage im Jahr auftauen, in den Sanddünen der Namibwüste, in den Blattachseln von Epiphyten in Baumkronen tropischer Regenwälder, in natürlichen CO2-Ausgasungsfeldern usw. Vor einigen Jahren wurden vier Fadenwurmarten, darunter eine bisher unbekannte, in 3,6 km Tiefe im unberührten Stollenwasser einer Goldmine in Südafrika gefunden.

Bodenzoologie Titelbild 12
Ganz schön viel los im Boden (und der Bodenzoologie). Oben rechts schlängelt sich ein Fadenwurm. 

Fadenwürmer zeichnen sich ja insbesondere durch ihre große Vielfalt aus. Wie viele Arten sind denn heutzutage schon bekannt? Und wie unterscheiden sie sich in ihrer Lebensweise?

Etwa 27.000 Arten sind derzeit weltweit beschrieben. Nach vorsichtigen Schätzungen sind das aber höchstens 10 % der tatsächlichen Artenzahl. Frei lebende Arten lassen sich in verschiedene Ernährungstypen einordnen: darunter große räuberische Arten, die andere mikroskopisch kleine Tiere mit großen Zähnen oder Speeren erlegen und dann ein- oder aussaugen; kleine bis mittelgroße Bakterienfresser mitunter mit spitzen Lippen oder langen gezähnten Kopfanhängen, mit denen sie die Bakterienrasen abweiden; oder Pilzfresser mit zarten Stiletten, die sie aus der Mundhöhle hinaus in Pilzhyphenzellen stechen können, um diese auszutrinken.

So winzig sie auch sind: Fadenwürmer sind sehr wichtig für den natürlichen Kreislauf. Was genau ist ihr Beitrag?

Das lässt sich nicht pauschalisieren. Es gibt einige Parasiten unter den Nematoden, die als Pflanzenschädlinge oder Krankheitserreger bei Tier und Mensch viel Schaden anrichten können. Die Mehrzahl der Nematoden und auch der Arten leben aber frei, also nicht-parasitisch, z. B. im Boden. Sie sorgen zusammen mit anderen mikroskopisch kleinen Tieren und Mikroorganismen dafür, dass sich auf unserer Erde das Rad des Nährstoffkreislaufs fleißig dreht.

Wie bekommen Sie diese kleinen Lebewesen eigentlich ins Labor und wie sieht da die Analyse aus?

Wir entnehmen Bodenproben und extrahieren daraus im Labor Fadenwürmer, aber auch Bärtierchen und Rädertiere, indem wir den Boden von oben langsam trocknen lassen, so dass die Wassertiere aktiv nach unten durch Filterpapier aus dem Boden ins Wasser auswandern. Unter dem Lichtmikroskop werden die Tiere dann bei 100-facher Vergrößerung gezählt, vermessen und sortiert. Für die Artbestimmung werden daraus dann Einzelpräparate angefertigt, die bei 1000-facher Vergrößerung bestimmt und in den Senckenberg-Sammlungen dokumentiert und aufbewahrt werden. Die Daten zu allen Funden sammeln wir in der bodenzoologischen Datenbank Edaphobase, wo sie öffentlich zugänglich sind. Je nach Fragestellung legen wir aber auch Lebendtierzuchten an oder führen genetische Untersuchungen durch.

Karin Hohberg auf Probenahme in der Namibwüste.

Stichwort Bio-Indikation: Können uns Fadenwürmer über den jeweiligen Boden und die Umwelt etwas verraten?

Ja, allerdings nicht über einzelne Indikatorarten. Es ist vielmehr die Zusammensetzung der ganzen Fadenwurmgemeinschaft einer Bodenprobe, die uns etwas über den Zustand des Bodens verrät. So können wir zum Beispiel über die Masse, die die einzelnen Ernährungstypen auf die Waage bringen, etwas über die Verfügbarkeit ihrer Nahrungsquelle sagen. Das Verhältnis von Pilzfresser zu Bakterienfresser gibt Aufschluss, ob der Abbau organischer Substanz im Boden eher von Bakterien oder eher von Pilzen gesteuert wird. Populationen der Familie Rhabditidae wachsen auf bakterienreichen Substraten, z. B. Dunghaufen, in wenigen Tagen exponentiell an, ihre Populationen brechen aber genauso schnell wieder ein, wenn die Ressource verbraucht ist. Sind sie in hohen Zahlen vertreten, wissen wir, dass hier hohe Abbauraten vorliegen und viel Stickstoff verfügbar ist. Auch die Biodiversität innerhalb der Fadenwurm-Gemeinschaft ist aussagekräftig. Viele Arten und das Vorhandensein von großen Fadenwürmern aus höheren trophischen Ebenen wie Räubern oder Allesfressern ist ein gutes Indiz für ungestörte, naturbelassene Wiesen und Wälder, während wir in jungen oder gestörten Böden nur wenige Arten und fast ausschließlich anspruchslose Bakterien- und Pilzfresser finden. Durch ihre kurzen Entwicklungszeiten und ihre hohe Reproduktionsfähigkeit geben Nematoden auch stets ein sehr aktuelles Zeugnis über den Zustand von Böden ab.

Nehmen wir mal folgendes Horrorszenario an: Mit einem Mal verschwinden weltweit die kleinen Tierchen aus den Böden. Was wären die Folgen?

Das ist schwer abzuschätzen, weil es keine natürlichen Böden ohne Fadenwürmer gibt, die man zum Vergleich heranziehen könnte. Fehlen Fadenwürmer, dann ist das bereits ein Zeichen für eine massive Störung. In jedem Fall sind Fadenwürmer ein wichtiger, natürlicher Bestandteil des Nahrungsnetzes und damit maßgeblich am Nährstoffkreislauf beteiligt. Experimente, in denen alles Leben eliminiert wurde und dann mit Ausnahme der Fadenwürmer wiedereingesetzt wurde, legen nahe, dass die Nährstoffverfügbarkeit für Pflanzen, besonders Stickstoff und Phosphor, ohne Fadenwürmer stark abnimmt und damit das Pflanzenwachstum beeinträchtigt wird. Wir können weiter davon ausgehen, dass mit den Fadenwürmern eine wichtige Nahrungsquelle für größere Tiere z. B. Raumilben fehlen würde und die Nahrungskette oder richtiger das Nahrungsnetz stark beeinträchtigt würde.

Zur Person

Karin Hohberg ist Sektionsleiterin Nematoda bei Senckenberg. Seit 2015 hat sie einen Lehrauftrag im Master-Studiengang Biodiversity and Collection Management, Internationales Hochschulinstitut Zittau, Technische Universität Dresden.