Übermäßiger Ressourcenverbrauch, Umweltverschmutzung, Zerstörung von Lebensräumen und Artensterben. Der Mensch übt seit Mitte des 20. Jahrhunderts einen so gewaltigen Einfluss auf die Erde aus, dass die Wissenschaft ein neues Zeitalter ausrufen will: das Anthropozän.

Senckenberg-Thema

Eine Medizin für die Erde


Die Vision eines nachhaltigen und wissenschaftsbasierten „Erdsystem-Managements“ soll keine Utopie bleiben.

Die Zukunft unseres Planeten und der Menschheit wa­ren der sensiblen wie exzentrischen Pop-­Ikone Michael Jackson alles andere als egal. In seinem „Earth Song“ von 1995 fragt er uns „What have we done to the earth?“ oder „Do we give a damn?“. Der implizite Vorwurf ist berechtigt, denn es scheint uns nicht zu kümmern, was mit unserer Erde geschieht. Dies gilt jedoch nicht für die Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung: Wir for­schen für Ihr und unser Leben gern – und wir setzen uns in der Tat intensiv damit auseinander, was wir Menschen mit der Erde anstellen!

The Great Acceleration …

Dabei lohnt es sich, zunächst einmal den Status quo zu betrachten. Es ist Fakt, dass wir gerade in den letzten 50–70 Jahren – die Zeit, die wir als „Great Acceleration“ bzw. „die große Beschleunigung“ bezeichnen (s. Infografiken, Steffen 2015) – sehr viel Positives für uns Menschen bewirkt haben. Diese Entwicklung ist ganz wesentlich durch die Fortschritte in der Wissenschaft ermöglicht worden. Denken Sie nur an die vielen technischen Errungenschaften, die uns allen das Leben leichter machen: Waschmaschine, Kommunikationsinfrastruktur, Auto, Flugzeug, Roboter, künstliche Intelligenz oder auch die moderne Medizin. Und tatsächlich: Wenn wir die Berichte der Vereinten Nationen zur globalen Ent­wicklung, etwa bezüglich der Millennium Development Goals (United Nations 2000) anschauen, müssen wir feststellen, dass sich die Situation stetig verbessert hat. Wir alle werden älter, weniger Menschen müssen Hunger leiden, das Bildungsniveau in den Ländern der Dritten Welt steigt und selbst die Gewalt scheint wohl insgesamt abzunehmen, wenn man der berühmten Studie von Steven Pinker (2011) glauben darf. 

 

Doppelseite aus „Natur · Forschung · Museum“, Bd. 148, 01-03 2018.

… und die Probleme im Schlepptau

Andererseits nehmen wir aber auch die vielen „Kolla­teralschäden“ dieser großen Beschleunigung wahr. Die Umweltverschmutzung hat ein bedrohliches Ausmaß angenommen, in einigen Großstädten wie Beijing oder Mexico City herrschen zumindest zeitweise geradezu gesundheitsbedrohende Lebensbedingungen ((Q)), wir verbrauchen im globalen Maßstab die Ressourcen von eineinhalb Erden, der ökologische Fußabdruck Deutsch­ lands ist sogar zweieinhalbmal größer, als es seiner Fläche entspricht. Wir verursachen einen Klimawandel, dessen Auswirkungen wir schon heute sehen können. Und wir beobachten weltweit ein Massensterben und Aussterben von Arten, das in seiner Geschwindigkeit den großen Aussterbeereignissen in der Erdgeschichte gleichkommt.

 

Senckenberg­-Wissenschaftler*innen konnten zum Beispiel nachweisen, dass innerhalb der letzten 200 Jahre al­ lein in Frankfurt 300 der 1200 Pflanzenarten erloschen (Starke­ Ottich et al. 2015) und auf einer Dauerbeobach tungsfläche, einem Trockenmagerrasenstandort nahe Regensburg, über die letzten 150 Jahre 35 Prozent der Schmetterlingsarten verschwunden sind – besonders alarmierend: mehr als die Hälfte davon allein im letzten Jahrzehnt (Habel et al. 2016). Überhaupt ist in Deutsch­ land innerhalb der letzten 27 Jahre die Biomasse an Insekten um rund 70 Prozent gesunken. Und mit den Insekten verschwinden deren Ökosystemleistungen. So kann die Bestäubung in vielen Regionen nicht mehr allein der Natur überlassen und muss vom Menschen durch den gezielten Einsatz eigens an die Orte gebrachter Bienenvölker unterstützt werden.

Wie können wir dieses Dilemma lösen und unseren Lebensstandard weiter verbessern, ohne gleichzeitig die Natur als unsere Lebensgrundlage zu zerstören? Wie sieht unsere Zukunft aus? Hat etwa Karl Valentin recht, wenn er konstatiert: „Die Zukunft war früher auch besser.“? Der Weg zurück – der Verzicht auf Fortschritt und technische Errungenschaften – kann nicht die Lösung sein. Der Ausweg aus der Krise liegt vielmehr im (System­)Wissen über die Zusammenhänge und in einem klugen und bedachten Umgang mit der Erde beziehungsweise mit den natürlichen Ressourcen.

Nachwachsende Rohstoffe auf dem Vormarsch: Aus Russischem Löwenzahn gewinnen Forscher*innen des Fraunhofer-Instituts für Molekularbiologie und Angewandte Ökologie Naturkautschuk.

Naturforschung als „Heilkunde für die Erde“

Was es also braucht, ist eine Naturforschung, die sich als „Heilkunde für die Erde“ versteht, um die „Gesundheit des Systems Erde“ für uns Menschen zu erhalten und wo erforderlich wiederherzustellen. Angesichts der eben verwendeten Begriffe wol­len wir den Vergleich zwischen Naturforschung und human-medizinischer Forschung etwas vertiefen. Die Gegenüberstellung ist insofern passend, da der mensch­liche Körper wie auch unser Planet Erde hochkomplexe Systeme sind, die sich permanent dynamisch verändern. Und beide Disziplinen haben das Wohlergehen ihres Protagonisten im Auge – die Humanmedizin den Men­schen, die moderne Naturforschung die ganze Erde. Wenn wir Menschen uns unwohl fühlen, Fieber oder ein Bein gebrochen haben, gehen wir zum Arzt. Die Medizin kann heute in sehr vielen Fällen helfen und sie gibt uns Ratschläge, wie wir gesünder leben: nicht rauchen, Alkohol nur in Maßen genießen, ausreichend Sport treiben, nicht zu viel Cholesterin zu uns nehmen und vieles andere mehr. Die Humanmedizin ist deshalb so erfolgreich, weil das „System Mensch“ relativ gut erforscht ist.

Über das „System Erde“ hingegen wissen wir heute noch erstaunlich wenig – wie es funktioniert und wie seine Bestandteile Geosphäre, Hydrosphäre, Atmo­sphäre, Biosphäre und Anthroposphäre ineinandergreifen und interagieren. Und was wir wissen, findet nur allzu oft keine Berücksichtigung bei unseren Entscheidungen. Wir greifen laufend mit einer unglaublichen Naivität tief in unser System Erde ein, ohne die Konsequenzen unseres Handelns angemessen abschätzen zu können. Wenn wir hier noch einmal den Vergleich mit der Humanmedizin anstellen wollen, so bewegen wir uns bei unseren Eingriffen in die Natur beziehungsweise in das System Erde heute noch auf dem Niveau der „Quacksalber“ des 16. und 17. Jahrhunderts. Wenige Beispiele mögen dies erläutern. 

Zu kurz gedacht

Der Rhein zwischen Basel und Karlsruhe schlängelte sich nach der letzten Eiszeit in weiten Mäandern durch die Auenlandschaft. Um den Fluss durchgängig schiffbar zu machen und Überschwemmungen entgegenzutreten, wurde er zwischen 1817 und 1876 unter Leitung von Johann Gottfried Tulla und seinen Nachfolgern begradigt und beidseitig mit Dämmen versehen. Die gesetzten Ziele wurden tatsächlich erreicht, doch stellten sich auch unerwünschte „Nebenwirkungen“ ein, die in der Folgezeit auch nicht völlig beseitigt werden konnten. So stieg durch „Tullas Rheinkorrektur“ die Überflutungs­gefahr in den distalen Rheinbereichen, die Eintiefung des Flussbetts als Folge der deutlich höheren Fließgeschwindigkeit mit entsprechender Absenkung des Grundwasserspiegels wurde völlig unterschätzt, ebenso die Auswirkungen auf die Flussfischerei. Ähnliche „Überraschungen“ ergaben sich nach der Fertigstellung der „Drei- Schluchten- Talsperre“ in China: Die mitunter verheerenden Auswirkungen des gigantischen Bauwerks auf die Menschen, auf die Ökologie und Sedimentologie in den betroffenen Flussregionen wurden drastisch un­terbewertet. Mit ähnlichen Folgen ist bei dem geplanten Bau des 280 Kilometer langen und zwischen 300 und 500 Metern breiten Nicaragua­Kanals zu rechnen, der den Atlantik mit dem Pazifik verbinden soll.

Um derartige „Kollateralschäden“ künftig zu vermeiden, müssen wir – um in der Sprache der Humanmedizin zu bleiben – die möglichen „Risiken und Nebenwirkungen“ geplanter Maßnahmen durch bessere, sorgfältigere und umfangreichere Voruntersuchungen ermitteln und bei der Entscheidung über die Gestaltung der Maßnahmen berücksichtigen.

Das Fazit lautet also: Wir müssen die Naturforschung zu einer „Heilkunde für die Erde“ entwickeln, die zum Ziel hat, das „System Erde–Mensch“ mit seiner komplexen Dynamik als Ganzes und auf den verschiedenen Skalenebenen zu verstehen. Hier gilt es, die potenziellen Auswirkungen anthropogener Eingriffe in die Natur – wie etwa der Elbvertiefung oder von Offshore­Windparks – zu erforschen und zu beurteilen und Empfehlungen für einen „gesunden“ Umgang mit der Erde zu geben. Und wir müssen lernen, mit der Erde beziehungsweise mit der Natur ebenso sorgsam umzugehen wie mit unserem eigenen Körper!

Senckenbergs Mission

Und genau das ist die Zukunftsmission für Senckenberg: Gemeinsam mit unseren nationalen und internationalen Partnern wollen wir diese „Heilkunde für die Erde“ als Wissenschaft ausbauen, um

• Empfehlungen für den gesunden Umgang mit unse­rem Heimatplaneten entwickeln und

• für geplante Maßnahmen die „Beipackzettel“ über „Risiken und Nebenwirkungen“ erarbeiten zu können.

 

Wie sieht der Wald der Zukunft aus? Auf einer Versuchsfläche im hessischen Lampertheim testet die Forschung Baumarten, die besser mit den veränderten Klimabedingungen zurechtkommen: Waldkiefer, Ungarische Eiche, Stiel-, Rot-, Flaum-, und Steineiche (im Bild). 
Forscher messen die Chlorophyllfluoreszenz, um die Fotosyntheseleistung von Pflanzen zu bestimmen. Sie gibt Aufschluss über ihre Vitalität und Stressfaktoren wie Kälte, Hitze, Trockenheit etc.
Die invasive Asiatische Buschmücke ist ein potenzieller Überträger von Infektionskrankheiten wie Denguefieber oder des West-Nil-Virus.

Naturforschung muss sich an Belangen der Gesellschaft orientieren

Dies impliziert, dass wir uns künftig nicht nur in der systemischen Naturforschung, die im Wesentlichen eine von Neugier getriebene Grundlagenforschung ist, national wie international stärker vernetzen wollen und müssen. Wir werden uns zukünftig auch mehr denn je mit gesellschaftlich relevanten Fragestellungen zu beschäftigen haben. Nicht zuletzt bedeutet dies aber auch, dass wir den Diskurs zwischen Wissenschaft und Gesellschaft neu gestalten und intensivieren müssen (s. Beitrag auf den Seiten 14 ff.). Das geplante „Neue Museum“ in Frankfurt wird hierbei eine zentrale Rolle spielen.

Diese Vision eines wissenschaftsbasierten „Erd­system­Managements“ oder „Geo­Engineerings“ ist ambitioniert und man mag sagen, sie sei eine Utopie. Andererseits: Hätte man zur Zeit der Quacksalber des 16. und 17. Jahrhunderts von einer modernen Humanmedizin, wie wir sie heute kennen, gesprochen – es wäre auch als utopisch abgetan worden. Bill Gates, der Gründer von Microsoft, hat zu diesem Umstand einmal sehr treffend kommentiert: „We always overestimate the change that will occur in the next two years and underestimate the change that will occur in the next ten.“

So bin ich überzeugt, dass Karl Valentin unrecht hat: Unsere Zukunft war nie besser als heute – trotz all der Herausforderungen, mit denen wir zu kämpfen haben. Und ich bin ebenso davon überzeugt, dass Sencken­berg seinen Weg, eine „Heilkunde für die Erde“ zu entwickeln, sehr erfolgreich gehen wird. Warum diese Zuversicht? Weil wir großartige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben, durch Mitglieder, Förderer und Unterstützer getragen werden, die unsere bisherige Geschichte geprägt haben und die uns auch in Zukunft zur Seite stehen werden.

Literatur

 

• Habel, J.C., Segerer, A., Ulrich, W., Torchyk, O., Weisser, W.W. & Schmitt, T. (2016): Butterfly community shifts over two centuries. – Conservation Biology, 30: 754–762

• Pinker, S. (2011): Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit. – S. Fischer, Frankfurt a.M., 1212 S.

• Starke­-Ottich, I., Bönsel, D., Gregor, T., Malten, A., Müller, C. & Zizka, G. (2015): Stadtnatur im Wandel – Artenvielfalt in Frankfurt am Main. – Kleine Senckenberg­Reihe 55, 276 S.

• Steffen, W., Broadgate, W., Deutsch, L., Gaffney, O. & Ludwig, C. (2015): The trajectory of the Anthropocene: The Great Acceleration. – SAGE Journals, 2/1: 81–98

• United Nations Millennium Declaration 55/2 (2000). United Nations General Assembly. http://www.un.org/millennium/declaration/ares552e.pdf

Natur · Forschung · Museum 01-03 2018