Das Landkärtchen (Araschnia levana), Frühjahrsform. Foto: M. Wiemers.

Senckenberg Deutsches Entomologisches Institut

„Insekt des Jahres“ 2023


Das Insekt des Jahres 2023 wurde am Mittwoch, den 30. November 2021 um 12:30 Uhr bekannt gegeben.

Das Landkärtchen – Araschnia levana

Sie sehen aus wie zwei unterschiedliche Arten, die im Frühjahr und erneut im Sommer fliegenden Falter des Landkärtchens, Araschnia levana. Des Rätsels Lösung: Aus den Raupen von Frühjahrs- bzw. Sommergeneration entwickeln sich unterschiedlich gefärbte Schmetterlinge. Der zu den Edelfaltern (Nymphalidae) zählende Schmetterling weist nämlich einen der extremsten Saisondimorphismen auf, der bei Insekten bekannt ist. Die Frühjahrsgeneration besitzt eine orangefarbene Grundfarbe mit schwarzen Zeichnungselementen (Form levana, Abb. 1). Die Sommergeneration ist überwiegend schwarz, mit einem gebogenen weißen Band auf Vorder- und Hinterflügel (Form prorsa, Abb. 2).

Die Flügel-Unterseite ist bei beiden Formen gleich. Sie ist relativ bunt und von zahlreichen, unterschiedlich dicken Linien durchzogen (Abb. 3). Das Ganze erinnert ein wenig an eine Landkarte, was dem Falter auch seinen deutschen Namen eingebracht hat. Ein Geschlechtsdimorphismus wie bei vielen anderen Schmetterlingen existiert nicht. Männchen und Weibchen unterscheiden sich somit innerhalb einer Generation nicht.

Tageslänge als Taktgeber

Was aber steuert die Ausbildung dieser unterschiedlichen Farbmuster der Flügeloberseiten? Es ist die Tageslänge während der Raupenzeit! In ausführlichen Laborexperimenten wurde schon vor mehr als einem halben
Jahrhundert nachgewiesen, dass Raupen, die unter Langtagbedingungen heranwachsen (≥ 15–17 Stunden Licht mit regionalen Unterschieden), sich ohne Diapause (= Ruhephase) zum Falter der Sommerform entwickeln. Unter Laborbedingungen können bei solchen Bedingungen sogar beliebig viele aufeinander folgende Generationen gezüchtet werden. Entwickeln sich die Raupen während weniger langen Tagen, gehen sie immer in eine Diapause und bilden nach der Überwinterung die Frühlingsform aus.

Wachsen Raupen jedoch bei Bedingungen heran, die zwischen den beiden liegen, so entwickelt sich bei ausreichend warmer Umgebung spontan eine Frühherbstgeneration. Diese hat ein Flügelmuster, das zwischen den beiden anderen Formen steht. Auch wenn die Bedingungen im Sommer ungünstig sind (häufige Bewölkung oder schattiger Standort der Raupenfraßpflanze), können solche Mischformen entstehen, die dann aber zusammen mit den normalen Sommertieren auftreten. Generell reichen zwölf Tage unter Langtagbedingungen aus, damit sich die Sommergeneration entwickelt.

Was aber passiert in den Tieren, damit die eine oder andere Form ausgebildet wird? Entscheidend sind Hormone aus der Gruppe der Ecdysteroide und der Zeitpunkt ihrer Wirkung in der Puppe. Die Gene, die die Ausschüttung kontrollieren, werden durch die Tageslänge reguliert. Eine frühe Ausschüttung der Hormone führt zur Ausbildung der Sommer-Form. Durch Hormoninjektionen in Puppen, die die Frühjahrs-Form ergeben hätten, können Sommer-Formen künstlich erzeugt werden, bei Reduzierung der Hormongabe diverse Übergangsformen, auch solche, die in der Natur unbekannt sind.

 

Warnung oder Tarnung?

Und wozu dienen die unterschiedlichen Farbvarianten? Während ihre physiologische Entwicklung recht gut untersucht ist, wissen wir kaum etwas über die Gründe ihrer evolutionären Entstehung. Stellt die orange Form im Gegensatz zur Sommerform eine Warnfärbung dar? Oder genießt diese Form im Frühjahr auf dem blätterbedeckten Boden am Waldrand eine bessere Tarnung, während die schokoladenbraune Form bei sommerlichen Verhältnissen mit den dann stärkeren Lichtkontrasten besser vor Fressfeinden geschützt ist? Erst vor etwa zehn Jahren wurden hierzu erstmals Versuche mit Blaumeisen durchgeführt, die aber keine dieser Annahmen bestätigen konnten. Allerdings liegt die Entstehung der beiden Farbvarianten wohl schon Millionen von Jahren zurück. Die Umwelt unterschied sich da stark von der heutigen. Dieses Beispiel zeigt
aber, dass selbst bei gut bekannten und relativ leicht zu beobachtenden heimischen Insekten noch viele Fragen offen sind.

Das Landkärtchen-Jahr

Im Frühling schlüpfen die Falter der Frühjahrsform oft schon Ende April aus den überwinternden Puppen. Man kann diese oft bis in den Juni hinein beobachten. Aus ihren Eiern kommen nach etwa zehn Tagen die Raupen, die sich dann in knapp drei Wochen bis zur Puppe entwickeln. Aus diesen schlüpfen dann nach gut zweiwöchiger Puppenruhe ab Ende Juni, meist aber im Juli, die Falter der Sommergeneration, die dann oft bis weit in den August fliegt. Die nächste Raupengeneration wächst dann im August und September heran. Die Entwicklung verläuft jedoch bei dieser Generation in allen Phasen deutlich langsamer. Meist in der
zweiten Septemberhälfte findet die Verpuppung statt. Die Puppe überdauert den Winter, um dann mit der Wärme des nächsten Frühjahrs einen neuen Falter zu entlassen. Aus den Eiern, die von sehr früh geschlüpften Weibchen der Sommergeneration zu Beginn der Flugzeit gelegt werden, kann sich die partielle dritte Generation entwickeln. Diese läuft jedoch ins Leere, denn die von diesen Tieren produzierten Eier haben kaum eine Chance, sich vor dem Winter erfolgreich bis zur Puppe zu entwickeln.

Türmchenbauer und Nesselfreund

Seine Eier legt das Landkärtchen in mehreren kurzen Schnüren, die wie umgedrehte Türmchen aussehen (Abb. 4), an die Unterseite von Blättern der Großen Brennnessel, Urtica dioica. Aber nicht jede Brennnessel passt, denn die Eier benötigen für ihre erfolgreiche Entwicklung eine hohe Luftfeuchtigkeit. Bevorzugt werden deshalb solche Pflanzen genutzt, die an feuchteren Stellen wachsen, wie beispielsweise in hochstaudenfluren in Bach- und Flusstälern. Wenn die Raupen schlüpfen, so leben sie zuerst gesellig an den Fraßpflanzen, vereinzeln sich aber mit der Zeit immer mehr. Sie sind schwarz-bräunlich und über den ganzen Körper mit den für viele Edelfalter typischen mehrfach verzweigten Dornen versehen (Abb. 5). Von den anderen Edelfaltern, deren Raupen an Brennnessel fressen, wie Kleiner Fuchs oder Tagpfauenauge, lassen sich die Landkärtchen-Raupen durch die zusätzlichen Dornen auf der Kopfkapsel gut unterscheiden. Charakteristisch ist auch, dass sich die Raupen von A. levana fast immer an den Blattunterseiten aufhalten. Zur Verpuppung befestigt sich die Raupe am Hinterleibsende mit einem Polster aus Seidenfäden an einer geeigneten Stelle. Nun hängt sie leicht gekrümmt kopfüber nach unten. Nach etwa zwei Tagen reißt die Larvenhaut auf und die Puppe (Abb. 6) arbeitet sich aus dieser heraus. Da sie frei nach unten hängt, wird sie als Stürzpuppe bezeichnet. Nach Abschluss der Metamorphose schlüpfen dann die Falter. Der Lebenszyklus schließt sich.

Strukturvielfalt bevorzugt

Generell ist das Landkärtchen in sehr unterschiedlichen Landschaftstypen zu finden. In ausgeräumten und intensiv landwirtschaftlich genutzten Gebieten ist die Art jedoch fast nicht anzutreffen, wohingegen sie in gut strukturierten Landschaften mit Hecken, Gebüschen, blühenden Wiesen und naturnahen Wald- und Gewässerrändern sehr zahlreich sein kann (Abb. 7). Auch entlang von sonnigen Waldwegen mit einem breiten Saum an Blütenpflanzen ist das Landkärtchen oft anzutreffen. Somit ist dieser Falter ein Indikator für eine ökologisch intakte Kulturlandschaft, wie sie in Deutschland durch Intensivierung der Landwirtschaft, forstliche Monokulturen und die immer weiter zunehmenden Siedlungs-, Industrie- und Verkehrsflächen immer seltener wird; und das, obwohl die Raupen an Brennnesseln fressen, die durch Überdüngung immer mehr zunehmen. Brennnesseln allein reichen also nicht, es müssen auch die anderen Lebensraumansprüche für die Art erfüllt sein, und die werden immer seltener. Trotz lokaler Bestandsrückgänge gilt die Art in Mitteleuropa aber dennoch als ungefährdet.

Verbreitung im 20. Jahrhundert

Heute ist das Landkärtchen von den Pyrenäen durch Mitteleuropa und Eurasien bis nach Japan verbreitet. Es fehlt aber im sommertrockenen Mittelmeerraum, auf den Britischen Inseln und in der Bretagne mit ihrem stark atlantisch geprägten Klima. Der Süden Fennoskandiens, wo die Sommer kurz sind, wurde erst in den letzten Jahrzehnten besiedelt (Abb. 8).

In Deutschland war das Landkärtchen aber bei weitem nicht immer so flächendeckend verbreitet wie heute. So war es in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts noch lokal und recht selten. Bis zur Jahrhundertmitte konnte es sich aber schon deutlich ausbreiten und an Häufigkeit zunehmen und in den nächsten wenigen Jahrzehnten auch das gesamte norddeutsche Tiefland besiedeln. In Böhmen war die Art Anfang des letzten Jahrhunderts fast verschwunden. Nach den 1930er Jahren wurde diese Region jedoch aus Nachbarbereichen wieder besiedelt, so dass die Art ab den 1950er Jahren hier wieder häufig beobachtet wurde. Das Landkärtchen weist somit eine Dynamik in seiner Verbreitung auf, die bis heute nicht wirklich verstanden wurde. Es bleiben also auch hier noch Fragen offen!

Die nahe Verwandtschaft

Die Gattung Araschnia umfasst insgesamt sieben Arten (Abb. 9), wobei der Status von A. oreas noch nicht geklärt ist. Mit Ausnahme des Landkärtchens sind jedoch alle anderen Arten auf den Osten Asiens beschränkt. Sie sehen sich alle recht ähnlich und weisen auch fast alle Saisondimorphismus auf, bis auf A. davidis, die sich stammesgeschichtlich als erste in der Gattung abgespalten hat und nur im südwestlichen China verbreitet ist. Diese Art sieht immer der Frühjahrsform des Landkärtchens recht ähnlich.

Lesetipps

EBERT, G. & RENNWALD, E. (1991) Die Schmetterlinge Baden-Württembergs, Band 1, Tagfalter I. Ulmer, Stuttgart. 552 Seiten.
REINHARDT, R. (1972) Der Landkärtchenfalter. Neue Brehm-Bücherei, Heft 458, Wittenberg. 64 Seiten.
REINHARDT, R., HARPKE, A., CASPARI, S., DOLEK, M., KÜHN, E., MUSCHE, M., TRUSCH, R., WIEMERS, M. & SETTELE, J. (2020) Verbreitungsatlas der Tagfalter und Widderchen Deutschlands. Ulmer, Stuttgart. 430 Seiten.

 

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