Berlin, 18. Mai 2020

Offener Brief an die Kanzlerin


Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin,
 

das Coronavirus und die damit verbundene Pandemie machen uns gegenwärtig schmerzhaft deutlich, wie eng unser Wohlergehen mit der Natur verbunden ist. Es zeigt auch mit beispielloser Klarheit die Folgen für die Menschheit, wenn wir die natürlichen Schutzschilde, die uns intakte Lebensräume mit hoher Artenvielfalt vor Pandemien bieten, weiter ungebremst zerstören.

Die enge Verbindung zwischen dem Verlust Biologischer Vielfalt und dem Auftreten von Pandemien haben Sie in Ihrer bemerkenswerten Rede am 28. April anlässlich des Petersberger Klimadialoges deutlich gemacht. Sie hielten fest, dass etwa 60% der Infektionskrankheiten insbesondere durch die verstärkte Nutzung bisher intakter Lebensräume und den Handel mit Wildtieren verbreitet werden und mahnten, dass beim internationalen Schutz der Biologischen Vielfalt unbedingt Fortschritte erzielt werden müssen.

Diese Fortschritte werden auch vom Weltbiodiversitätsrat IPBES dringend eingefordert. Der IPBES Report zum globalen Zustand der Biologischen Vielfalt hat vor einem Jahr so nachdrücklich wie nie zuvor auf die wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Folgen der Biodiversitätskrise aufmerksam gemacht. Leider hat dieser oft als „Letzter Weckruf“ zitierte Bericht bisher zu keinem spürbaren Aufwachen und Handeln der Bundesregierung geführt. Ganz im Gegenteil. Ressorts Ihrer Regierung und Bundestagsabgeordnete Ihrer Partei versuchen mit Berufung auf die wirtschaftlichen Auswirkungen der Coronakrise Kernelemente des European Green Deals, einschließlich der EU Biodiversitätsstrategie aufzuweichen.

Dies steht im Widerspruch zu Ihren Ausführungen am 28. April. Dort betonten Sie, dass Klimaschutz und Biodiversität auch in Zeiten einer weltweiten pandemischen Krise von allergrößter Bedeutung sind und der „European Green Deal“ den richtigen Weg aufzeige.

Die Bundesregierung überzeugt bisher auch nicht bei den Vorbereitungen zur neuen Biodiversitätsstrategie der UN Vertragsstaatenkonferenz (CBD), die auf der COP15 verabschiedet werden soll. Eine ambitionierte und klare Positionierung zu wichtigen Zielen und Themen, die angesichts der Bedeutung Deutschlands auf internationalem Parkett und der ab 1. Juli beginnenden EU Ratspräsidentschaft notwendig wäre, ist bisher nicht zu erkennen.

Wir appellieren daher zum Weltbiodiversitätstag am 22. Mai an Sie als Bundeskanzlerin, die Bewahrung der Biologischen Vielfalt zur Chefsache zu machen. Nur so würde sichergestellt, dass die Bundesregierung zukünftig eine ressortübergreifende und wirksame Politik zum Schutz der Biodiversität verfolgt, die auf klaren, ehrgeizigen Zielen und Positionen basiert und unsere Zukunft sichert.

Zentraler Bestandteil dieser Politik muss u.a. das Bestreben der Bundesregierung sein, bis 2030 mindestens 30% der Meeres- und Landfläche der Erde unter Anerkennung und Unterstützung der Rechte Indigener Völker effektiv zu schützen.

Dieses Ziel ist ein Kernelement der EU-Biodiversitätsstrategie 2030. Die Wissenschaft und eine wachsende Anzahl von CBD-Vertragsstaaten, Unternehmen, Philanthropen, Stiftungen, internationalen Nichtregierungsorganisationen und die Weltnaturschutzunion IUCN sind sich einig, dass dieses Ziel eine entscheidende Rolle in den kommenden zehn Jahren spielen muss, um den dramatischen Verlust von natürlichen und intakten Lebensräumen mit ihren Arten aufzuhalten.

Der Schutz von mindestens 30% Fläche ist ein dreifacher Gewinn für unseren Planeten. Wissenschaftler gehen davon aus, dass bei effektiver Umsetzung etwa 70% der biologischen Vielfalt und der grundlegenden Ökosystemleistungen für die Menschheit erhalten bleiben. Ein gestärkter und erweiterter Schutz natürlicher Lebensräume, insbesondere in den Tropenwäldern, würde gleichzeitig für uns Menschen auch einen natürlichen Schutzschild gegen weitere Pandemien bilden. Und, indem natürliche Kohlenstoffsenken erhalten und Emissionen gebunden werden, würden wesentliche Beiträge zum Klimaschutz geleistet sowie die Widerstands- und Anpassungsfähigkeit an den Klimawandel gestärkt.

Diese Pandemie zeigt uns auf erschreckend deutliche Weise, wie stark unsere Gesundheit und letztlich unser Überleben von einem gesunden Planeten abhängig sind. Gleichzeitig bietet sie die einmalige Chance, die unabdingbaren transformativen Änderungen in unseren Wirtschafts- und Finanzsystemen einzuleiten, um die Zukunftsfähigkeit der Menschheit zu sichern.

Der European Green Deal, einschließlich der EU-Biodiversitätsstrategie, zeigt die Richtung an, wie ein transformativer Wandel in Europa eingeleitet werden muss. Wir erwarten daher von der Bundesregierung in Vorbereitung auf die am 1. Juli beginnende Ratspräsidentschaft:

  • sich national und auf europäischer Ebene dafür einzusetzen, das Ambitionsniveau des European Green Deals beizubehalten und eine konsequente und zeitnahe Umsetzung zu unterstützen,
  • die Planung und Umsetzung der Konjunkturprogramme an den Kernelementen des European Green Deal auszurichten. Es wäre fatal, jetzt den Lobbyisten nachzugeben und damit gestrige Wirtschaftsweisen und -modelle festzuschreiben oder schwierige Transformationsprozesse angesichts der aktuellen Krise zu verschieben. Dazu gehört insbesondere die umgehende Neuausrichtung der Landwirtschaft als Hauptursache für den Verlust der Biologischen Vielfalt, 
  • sich umgehend auf ehrgeizige und konkrete Ziele zum Schutz der Biologischen Vielfalt zu verpflichten und diese national, innerhalb der EU und international zu vertreten. Damit verbunden ist ein klares Bekenntnis zu dem Ziel, bis 2030 global mindestens 30% der Meeres- und Landfläche unter wirksamen Schutz zu stellen und sich maßgeblich an der Mobilisierung der zur Umsetzung notwendigen Finanzmittel zu beteiligen.

Was unsere Bürgerinnen und Bürger von der Bundesregierung erwarten, ist einer aktuellen repräsentativen Umfrage zufolge eindeutig:

  • 95% halten die Bekämpfung des Artensterbens für wichtig oder sehr wichtig,
  • 86% wollen den verstärkten Schutz intakter Naturräume, um damit die Übertragung infektiöser Krankheiten von Tier auf Mensch zu reduzieren,
  • vier von fünf wünschen sich, dass bei den Konjunkturprogrammen jene Unternehmen und Industrien bevorzugt werden, die ehrgeizige Gesundheits-, Umwelt- und Klimaschutzziele verfolgen,
  • 84% aller Befragten möchten, dass die Bundesregierung den Schutz von Klima und Natur zu einem Schwerpunkt macht.

Die Reaktion auf die Coronavirus Pandemie verlangt jetzt von uns allen, das Gemeinwohl jetziger und zukünftiger Generationen entschieden gegenüber kurzfristigen Partikularinteressen zu sichern. Wir müssen mit aller Dringlichkeit die Politiken und Maßnahmen umsetzen, die die Natur schützen, damit die Natur uns wieder schützen kann. Die aktuelle Umfrage macht deutlich, dass dies von der großen Mehrheit der Deutschen erwartet und unterstützt wird. Das macht Mut und sollte als große Chance gesehen werden.

Für eine Antwort wären wir Ihnen sehr dankbar.

Mit freundlichen Grüßen

 

Olaf Bandt, Vorsitzender Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND)

Prof. Dr. Detlev Drenckhahn

Dr. Jürgen Heraeus

Hannes Jaenicke, Schauspieler, Autor, Dokumentarfilmer

Martin Kaiser, Geschäftsführender Vorstand Greenpeace Deutschland

Klaus Milke, Stifter / Vorsitzender Stiftung Zukunftsfähigkeit & Chair Foundations 20

Prof. Dr. Kai Niebert, Präsident Deutscher Naturschutzring DNR

Prof. Dr. Volker Mosbrugger, Generaldirektor Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung, Frankfurt am Main

Prof. Dr. Manfred Niekisch

Dr. Christof Schenck, Geschäftsführer Zoologische Gesellschaft Frankfurt

Dr. Georg Schwede, Representative Europe, Campaign for Nature

Ernst-Christoph Stolper, Sprecher des Leitungskreises Forum Umwelt & Entwicklung

Prof. Dr. Johannes Vogel, Generaldirektor des Museums für Naturkunde Berlin

Hansjörg Wyss, Chairman Wyss Foundation

Wir erbitten Antwort auch an den Koordinator dieses offenen Briefes:

Dr. Georg Schwede
Representative Europe, Campaign for Nature
Am Sonnenbrühl 19,
79410 Badenweiler
georg@campaignfornature.com