#7: Zu den südlichsten Wäldern der Welt … und darüber hinaus
Ein Reisebericht von Dr. Birgit Kanz
Dr. Christian Printzen und Dr. Birgit Kanz, Wissenschaftler*innen vom Senckenberg Forschungsinstitut Frankfurt, sind unterwegs nach Puerto Williams am südlichsten Zipfel Feuerlands. Sie wollen auf der chilenischen Isla Navarino die Biodiversität der Flechten und Pflanzen erforschen und – nicht zuletzt – grandiose Landschaften und unberührte Natur genießen.
Mit ihren Reiseberichten hier auf dem Mitglieder-Blog (immer am Freitag, wenn dies die Umstände zulassen) lässt uns Birgit Kanz teilhaben an ihren Erfahrungen, Begegnungen und wissenschaftlichen Erkenntnissen in den südlichsten Wäldern der Welt – und darüber hinaus.
#7 Ein ernüchternder Ausflug
Puerto Williams, 14.1.2022
Während der ersten vier oder fünf Wochen (ich habe mittlerweile jegliches Zeitgefühl verloren) hatten wir uns mehr oder weniger in der Nähe von Puerto Williams aufgehalten. Entlang des Steigs hinauf zum Cerro Bandera, unserem Hausberg, war das „Angebot“ groß genug, um uns in die neue, noch unbekannte Vegetation einzufinden. Dann war es aber doch an der Zeit, dass wir uns um Transport und Guide kümmerten, um zu einem anderen Teil der Insel vorzudringen. Es sollte zunächst der Gebirgszug der „Montes Miseria“ ganz im Osten der Insel sein, denn dieser war gut erreichbar und trotzdem botanisch noch wenig untersucht. Abseits von Puerto Williams erwarteten wir außerdem, eine noch weitgehend ungestörte Landschaft vorzufinden.
Javier, das Faktotum hier am Instituto de Ecología y Biodiversidad (IEB), fuhr uns in vierzig Minuten bis zum östlichen Ende der geschotterten Inselstraße. Dann führte er uns in Begleitung zweier Studenten einen nur spärlich markierten Pfad hinauf bis zur Waldgrenze, wo wir unser Zelt aufschlagen wollten. Wir fanden einen windgeschützten Platz zwischen den Büschen der Antarktischen Scheinbuche (Nothofagus antarctica) unmittelbar am Rande des Hochplateaus (Abb. 1). Dort ließen uns die drei wehmütig zurück, denn sie wären zu gerne bei uns geblieben. Der Ausblick über den Beagle-Kanal hinweg nach Westen und Osten ist aber auch einfach atemberaubend (Abb. 2)!
Den Nachmittag verbrachten Christian und ich nach Zeltaufbau und Wassersuche in unmittelbarer Nähe unserer Behausung, wo wir in den moorigen Bereichen auch gleich reichlich neue Arten fanden (Abb. 3-5). Inzwischen war es aber sehr windig und empfindlich kalt geworden, so dass wir es für den ersten Tag bald genug sein ließen und uns für unser karges Abendmahl ins Zelt zurückzogen.
Schon vorher hatte sich angedeutet, dass die Wasserversorgung problematisch sein würde, denn in Chile herrscht aufgrund des Klimawandels Wassermangel. Hier im Süden sind alle Rinnsale ausgetrocknet und nur an vertieften Stellen und in größeren, vom Biber angestauten Tümpeln findet sich das kühle Nass. So gab es in Zeltnähe auch nur ein Gewässer von zweifelhafter Qualität. Während ich im Zelt die gesammelten Pflanzen trockenlegte und am Blog schrieb, saß Christian also am Feuer und kochte literweise Wasser ab (Abb. 6). Glücklicherweise ist es uns gut bekommen!
Am nächsten Tag zog es uns natürlich auf das Hochplateau. Javier hatte uns nicht zurückgelassen, ohne uns zuvor auf den Grund für die Namensgebung „Montes Miseria“ (Berge des Elends) hinzuweisen: Die Gegend sei bekannt für rasch aufziehende Nebel. Wir sollten uns also gut vorsehen …
Soweit das Auge reichte, erstreckte sich das sanft gewellte Plateau (Abb. 7 und 8). Ein Weg, der in zwei Tagestouren nach Puerto Torres – der wirklich südlichsten Siedlung der Welt – führt, sollte markiert sein, und dem wollten wir folgen. Ursprünglich hatten wir mit der Fähre nach Puerto Torres fahren und dann den Weg zurück zur Nordküste wandern wollen. Das hatte sich logistisch aber nicht einrichten lassen. Stattdessen wollten wir uns nun in Tagestouren vom Norden aus auf diesem Weg bewegen. Wir merkten schon bald, dass die Wegmarkierungen in sehr großen Abständen angelegt waren. Eingedenk Javiers Warnung versicherten wir uns also ständig unseres Rückweges. GPS-Punkte nahmen wir sowieso an jedem Sammelstandort, wir würden auf jeden Fall zurückfinden. Das Wetter blieb bis zum Abend klar und unproblematisch, es war allerdings sehr windig und auch ziemlich kalt. Immer wieder graupelte es.
Wie das mit einer baum- und strauchlosen Tundravegetation so ist, wirkte die Landschaft eintönig. Schaut man allerdings genauer auf den Boden, so sind dort kleinräumig unterschiedliche Strukturen erkennbar. Felsen gab es keine, aber feuchtere Senken wechselten sich ab mit trockeneren leichten Erhebungen, und kahlere steinige Bereiche mit dicht von Polsterpflanzen bewachsenen Flecken (Abb. 9-11). Manchmal mehr, manchmal weniger auffällig war eine insgesamt wellenartig anmutende Strukturierung der gesamten Landschaft sichtbar. Sie verlief der vorherrschenden Windrichtung entsprechend nach Osten.
Auch wir wurden unentwegt vom heftigen Wind traktiert und versuchten ihm in den flachen Senken zu entkommen, um einigermaßen geschützt sammeln zu können. Uns flogen dennoch ständig die Sammeltüten um die Ohren und mit den kalten Fingern war es mühsam, alle Dinge unter Kontrolle zu halten. Das ständige Handschuhe-An-und-Ausgeziehe war ziemlich nervig und wir kamen nur sehr langsam voran. Es waren zwei bis drei Grad zu kalt, als dass wir uns wirklich hätten wohlfühlen können. Zu sehen, wie die Kordilleren um uns herum in den Gipfelbereichen durch Neuschnee immer weißer wurden, hob die Stimmung auch nicht gerade (Abb. 12). Aber natürlich verhilft solch eine Wettererfahrung (das Wetter war ja noch harmlos und einigermaßen ok) zu verstehen, warum eine Landschaft so aussieht, wie sie aussieht.
Als am nächsten Morgen aber auch auf unserer Hochfläche Schnee lag, beschlossen wir, hinabzusteigen und diesen Tag im Wald zu verbringen. Obschon ich die ein oder andere neue Pflanze fand und auch Christian da und dort sammelte, erwies sich die Gegend insgesamt als sehr enttäuschend. Wir hatten das schon beim Aufstieg bemerkt, aber gehofft, dass wir noch bessere Bereiche finden würden. Die jedoch gab es in erreichbarer Entfernung nicht.
An dieser Stelle muss ich noch einmal auf Tiere zu sprechen kommen. Hier auf der Insel besteht ein handfestes, akutes Problem mit den freilaufenden Haus- und Nutztieren sowie mit dem eingewanderten nordamerikanischen Biber (Castor canadensis). Bislang war ich mir des vollständigen Ausmaßes der Problematik noch gar nicht bewusst gewesen, außer dass ich es nervig fand, dauernd von Straßenhunden begleitet oder verbellt zu werden oder amüsiert-erschrocken war, wenn eine Pferdeherde durch den Ort galoppierte.
Wir dachten, in den „Montes Miseria“ fern der Zivilisation und ihrer Störungen zu sein, mussten aber feststellen, dass auch diese Gegend schon Weideland für Rindviecher war. Wir hatten am Vortag auf dem Plateau eine Rinderherde von etwa zehn Tieren aufgescheucht, die sich ganz offensichtlich dort zu Hause fühlten (Abb. 13). Es war deutlich sichtbar, dass ihre Existenz nicht ohne Auswirkungen auf die Vegetation bleibt, denn die scharfen Hufe der Tiere schneiden sich regelrecht in die in festen Polstern angelegte Vegetation hinein. Die Polsterbildung der Pflanzen dient ihrer weitgehenden Abschottung gegenüber klimatischen Unbilden wie Kälte, austrocknendem Wind, Sonnen- und UV-Einstrahlung. Wird solch ein Polster verletzt, verkümmert die Pflanze. Genau das ist allenthalben zu beobachten, und dabei handelt es sich noch nicht einmal um große Viehherden, die frei herumlaufen! Die Pflanzen sind den Verletzungen hilflos ausgeliefert, da sie nicht an Huftiere angepasst sind – vor ein paar Jahrzehnten gab es hier noch kein Weidevieh; es konnte also keine Ko-Evolution stattfinden. Das ist bei uns in Europa ganz anders, denn hier konnten Pflanzenarten im Zusammenspiel mit großen Herbivoren wie z.B. dem Wisent über lange Zeiträume hinweg Abwehrmechanismen in Form von Stacheln, Dornen, Brennhaaren, Giften, bitteren Geschmacksstoffen usw. entwickeln. Angeblich gehören die freilaufenden Tiere hier niemandem, aber das ist wohl nicht ganz richtig. Es ist viel bequemer und auch ökonomisch günstiger, die Tiere frei herumlaufen zu lassen, als kostspielige Zäune aufzustellen, die man auch noch in Stand halten muss, oder für sie Futter vorzuhalten. Jedoch sind freilaufende Rindviecher (und Pferde und Hunde) nicht das einzige Problem …
Da gibt es noch den Biber. Im Jahre 1946 wurden auf dem argentinischen Teil der Insel Feuerland zwanzig Individuen der nordamerikanischen Biberart Castor canadensis ausgesetzt. Die Ausbreitungsrate liegt zwischen 2,6 und 6,3 km pro Jahr und im Jahr 2015(!) war die Art bereits auf fast drei Viertel der Feuerland-Insel, der gesamten Navarino-Insel und des umliegenden Archipels verbreitet, wobei die Populationsgröße allein auf dem chilenischen Territorium von Feuerland und der Navarino-Insel auf 61.000 Biber geschätzt wurde. Zielgerichtete Projekte zur Verhinderung und Kontrolle der Auswirkungen invasiver Tierarten gab es bislang nur wenige und wenn, waren sie schlecht budgetiert und wohl auch nur auf das Festland konzentriert.
Die Auswirkungen hier auf der Insel sind dramatisch. Die Tiere bauen in der Nähe von Fließgewässern große Biberburgen (Abb. 14), stauen mittels hoher, durchaus kunstvoll gebauter Dämme weiträumig das Wasser an und fluten dadurch großflächig den Wald. Die Bäume sterben daraufhin ab und stehen nur noch als Gerippe herum (Abb. 15). Erst jetzt klärte sich für mich diese schon häufig wahrgenommene geisterhafte Landschaftserscheinung.
Junge Biber setzen sich in ihrem dritten Lebensjahr von den Eltern ab, ziehen am Gewässer entlang weiter und bauen in einigem Abstand ihre eigenen Burgen. Alte Burgen werden nicht noch einmal bezogen. Die häufigen Stauphänomene lassen das ganze Wasserregime einer Region aus den Fugen geraten und damit auch die ursprünglich ansässige Vegetation. Ist erst einmal eine großflächige Bresche in den Waldbestand geschlagen, verlieren auch die benachbarten Bestände ihr typisches Waldklima, lichten aus, und der nächste Sturm hat ein leichtes Spiel. Auf diese Weise schrumpft der natürliche Waldbestand erschreckend schnell.
Diese unglückliche Kombination unterschiedlicher Schädigungen, die durch die nicht-einheimischen Tierarten verursacht werden, wird Navarino und die umliegenden Inseln in den nächsten Jahrzehnten stark verändern. Der Wald wird drastisch zurückgedrängt und überall dort, wo die einheimische Vegetation gestört wird, werden sich invasive Pflanzenarten ansiedeln, wie es schon jetzt zu beobachten ist.
Leider scheint es trotz Warnungen noch kein nennenswertes Problembewusstsein in der Bevölkerung zu geben. Eine ungünstige Mischung aus Bequemlichkeit, falsch verstandenem Tierwohl und Unverständnis gegenüber ökologischen Zusammenhängen verhindert dies. Die Mitarbeiter*innen des hiesigen Instituts (IEB) haben es sich zur Aufgabe gemacht, die wissenschaftlichen Erkenntnisse für die Bevölkerung sichtbar zu machen. Verschiedene strategische Zielgruppen werden durch Aktivitäten, Produkte und Publikationen, digitale Kommunikation und Pressearbeit eingebunden und dabei für jede Zielgruppe und jedes Kommunikationsformat geeignete Formate und Sprachen verwendet. Man kann immer nur hoffen, dass Fehlentwicklungen noch rechtzeitig aufgehalten werden.
Um einer Vegetation aus Einjährigem Rispengras (Poa annua), Gänseblümchen (Bellis perennis), Vogelmiere (Stellaria media), Weiß-Klee (Trifolium repens), Schafgarbe (Achillea millefolium), Spitzwegerich (Plantago lancelolata), Wolligem Honiggras (Holcus lanata), Löwenzahn (Taraxacum sect. Ruderale) und andere kosmopolitisch oder europäisch verbreiteten Arten zu begegnen, kommt jedenfalls kein*e Tourist*in hierher. Vielleicht wirkt am Ende doch wieder nur dieses ökonomische Argument.