Abb. 7 Fernblick über ein im Talgrund gelegenes Heidemoor.

#8: Zu den südlichsten Wäldern der Welt … und darüber hinaus

Ein Reisebericht von Dr. Birgit Kanz

Dr. Christian Printzen und Dr. Birgit Kanz, Wissenschaftler*innen vom Senckenberg Forschungsinstitut Frankfurt, sind unterwegs nach Puerto Williams am südlichsten Zipfel Feuerlands. Sie wollen auf der chilenischen Isla Navarino die Biodiversität der Flechten und Pflanzen erforschen und – nicht zuletzt – grandiose Landschaften und unberührte Natur genießen.

Mit ihren Reiseberichten hier auf dem Mitglieder-Blog (immer am Freitag, wenn dies die Umstände zulassen) lässt uns Birgit Kanz teilhaben an ihren Erfahrungen, Begegnungen und wissenschaftlichen Erkenntnissen in den südlichsten Wäldern der Welt – und darüber hinaus.

#8 Auf der Suche nach einem Restbestand von Altwald

Puerto Williams, 21.1.2022

Auf der Ostflanke des Gebirgszuges am Lago Róbalo, westlich von Puerto Williams, soll sich der älteste Südbuchenbestand Navarinos befinden. Er sei etwa 400 bis 450 Jahre alt, erzählte uns der Ökologe Ricardo Rozzi (siehe Blogbeitrag #2). Auch sollte in diesem Bestand ein südamerikanischer Endemit wachsen, Lebetanthus myrsinites, eine Art aus der Familie der Erikagewächse (Ericaceae). Nach der großen Enttäuschung im Wald am Montes Miseria (nachzulesen im Blogbeitrag #7) wollten wir gerne wieder einmal einen schönen, alten und intakten Wald sehen. So planten wir eine Tagestour dorthin.

Vormittags um halb zehn schwangen wir uns auf die Räder, um die langweilige Schotterstraße bis zum Tour-Einstieg möglichst zügig zurückzulegen. Obwohl ich zuvor noch geunkt hatte, dass wir sicher wieder von Hunden begleitet werden würden (die ganze Geschichte in Blogbeitrag #6), war das dieses Mal glücklicherweise nicht der Fall. Das fiel mir aber erst auf, als wir uns längst wieder auf dem Rückweg befanden.

Die Einstiegsstelle für die Tour war dieselbe wie die, die zum Cerro Bandeira hinaufführte (Blogbeitrag #3), nur dass wir dieses Mal nicht in die Höhe strebten, sondern einem Pfad entlang des Flusses Róbalo im Tal folgten. Der Weg durch den Wald war gut markiert, denn ein paar Tage zuvor war er für eine amerikanische Studentengruppe präpariert worden, die zwei Wochen mit uns das Quartier geteilt hatte. Die Gruppe um Andrew Gregory, Assistenzprofessor an der University of North Texas, hatte einheimischen Vögeln Blutproben für eine wissenschaftliche Studie entnommen und dafür am See Róbalo ihre Zelte aufgeschlagen. Eine der Vogelpopulationen wies Symptome von Malaria auf – allerdings ist Malaria bekanntermaßen eine von Moskitos übertragene Krankheit, und bislang waren diese im subantarktischen Klima Chiles nicht anzutreffen gewesen. Nun soll die Untersuchung des Verhaltens von Malaria in der Vogelpopulation Aufschluss darüber geben, wie sich eine derartige Krankheit unter den aktuellen Bedingungen des Klimawandels auf die Artenvielfalt auswirkt.

Der Weg führte uns anfänglich durch eine trockene Ausprägung des Südbuchenwaldes, und wir stellten fest, dass die Torfmyrtensträucher gleichzeitig blühten und fruchteten (Abb. 1). Die lilaroten Früchte sind essbar, aber sie sind von eher wattiger Konsistenz und haben eine Neigung zum Bitteren. Seit Dezember, als ich die ersten Beeren probierte, haben sie deutlich an Süße gewonnen; sie scheinen aber kaum gesammelt zu werden.

Dann näherte sich der Pfad dem Fluss und einem Wasserfall (Abb. 2). Da ich immer noch auf der Suche nach Hautfarnen war (auf der Insel soll es gleich mehrere Arten geben), kletterte ich zu den feuchten Felsen in die Spritzzone hinunter. Dort entdeckte ich, dass nicht nur das Gestein, sondern auch der gesamte Waldboden darum herum flächendeckend mit den winzigen Farnpflänzchen bewachsen war (Abb. 3). Es handelte sich um Hymenophyllum peltatum, eine südhemisphärische Art, die in geeigneten Bereichen der Tieflagen auf feuchten Waldböden wächst. An den Felsen fand ich außerdem wieder den kleinen Farn der Gattung Notogrammitis, den ich schon aus der Felsenlandschaft eines anderen Wasserfalls kannte: Notogrammitis angustifolia (Abb. 4). Eine Art, die sich von Neuseeland kommend auf den Weg nach Südamerika gemacht hatte. Mit diesen beiden Funden hatte der Tag direkt vielversprechend begonnen.

Derweil hatte sich Christian natürlich der Flechtenflora gewidmet und unter anderem eine Placopsis-Art auf Felsen am Flussufer gefunden (Abb. 5). Aus dem südlichen Südamerika sind 22 Arten dieser Gattung bekannt; diese hat also ganz offensichtlich hier ihr Diversitätszentrum. Auf der Flechtenliste Navarinos standen bisher nur drei Arten. Von molekulargenetischen Untersuchungen an anderen Placopsis-Aufsammlungen wusste Christian aber schon, dass es hier wenigstens noch vier weitere Arten gibt. Ob das Individuum auf dem Foto eine der sieben bekannten Arten ist oder ob es sich eventuell um eine weitere neue handelt, müssen nähere Untersuchungen im Labor zeigen. Placopsis gehört zu den Flechten, die als Symbiosepartner sowohl Grünalgen als auch Cyanobakterien aufweisen. Letztere konzentrieren sich nur in bestimmten Bereiche des Flechtenkörpers, den sogenannten Cephalodien. Diese sind bei Placopsis als braune, wulstige Flecken erkennbar (Abb.5). Cyanobakterien sind im Gegensatz zu den meisten anderen Organismen in der Lage, Luftstickstoff für ihren Stoffwechsel nutzbar zu machen. Von den entstehenden Stickstoffverbindungen profitiert auch der Flechtenpilz: Durch die „Kultivierung“ der Cyanobakterien erschließt er für sich eine zusätzliche Stickstoffquelle.

Dass nach diesem ersten botanischen Höhepunkt gleich wieder ein vom Biber unter Wasser gesetzter und damit abgestorbener Waldbestand folgte, tat der guten Laune keinen Abbruch, denn es handelte sich um eine vergleichsweise kleine Fläche. Eine Art, die regelmäßig in solchen Bereichen anzutreffen ist, ist das Smith’sche Greiskraut (Senecio smithii; Abb. 6). Während andere Arten in dieser Weltengegend eher zur Winzigkeit neigen, fällt dieses Greiskraut durch seine imposante Größe auf.

Nachdem wir uns durch den Sumpf mit seinen zahlreichen kreuz und quer liegenden Totbäumen gekämpft hatten, kamen wir zu einer natürlichen Moorfläche (Abb.7). Die wollte ich mir genauer anschauen. Ich suchte immer noch die einzige Sonntau-Art, die es auf der Insel geben soll – den einblütigen Sonnentau (Drosera uniflora). Aber er schien ihn auch hier nicht zu wachsen. Stattdessen fand ich Tetroncium magellanicum (Abb. 8), eine Art aus der Familie der Dreizackgewächse (Juncaginaceae), die ihren Verbreitungsschwerpunkt in Patagonien und Feuerland hat und dort typischerweise in Hochmooren zusammen mit dem Torfmoos Sphagnum magellanicum anzutreffen ist. Weder Art noch Gattung waren mir zuvor ein Begriff gewesen.

Nach diesem Stopp zogen wir das Tempo ein wenig an, weil das eigentliche Ziel ja die Suche nach dem Altwaldbestand am See war. Nach einer knappen Stunde erreichten wir diesen dann endlich. Auch dieses Gewässer war durch einen Biberdamm etwas aufgestaut, das Wasser konnte aber dennoch zügig heraus- und als Fluss weiterfließen. Am Ufer zog ein kriechendes, immergrünes Gesträuch meine Aufmerksamkeit auf sich: Escallonia serrata aus der Familie der Escalloniaceae, die nur in der chilenischen Región de Magallanes verbreitet ist (Abb. 9). In ihrer Nachbarschaft hatte sich ein Bärlapp auffällig und großflächig ausgebreitet: Austrolycopodium confertum, eine in Süd-Chile, Süd-Argentinien und auf den Falkland-Inseln verbreitete Bärlapp-Art (Abb. 10).

Vom südlichen Seeufer aus bot sich uns ein fantastisches Panorama mit den „Dientes de Navarino“ im Hintergrund (Abb. 11). Irgendwo auf der östlichen Bergflanke (im Foto rechts) sollte der Altwaldbestand sein. Wir verließen den Pfad und schlugen uns in die Büsche. Anfangs ging es noch zügig über moorige oder heidenartige Lichtungen hinweg. Dort stolperten wir über die dritte von den vier auf der Insel siedelnden Perezia-Arten, Perezia magellanica. Die hübschen Arten dieser Gattung habe ich besonders ins Herz geschlossen. Dann ging es weiter quer durch das Gehölz und das Weiterkommen wurde beschwerlich. Entweder hatten wir es mit jungem, dicht stehenden verkrüppelten Stangenholz zu tun oder mit mittelalten Lenga-Südbuchen-Beständen, in denen zahllose Totbäume kreuz und quer herum lagen. Die Waldstruktur erinnerte etwas an unsere Hallenbuchenwälder, denn auch hier war keine nennenswerte Strauch- und Krautschicht ausgebildet. Dennoch empfanden wir den Standort als gestört, aber vielleicht war er uns nur fremd. Spuren streunenden Weideviehs hatten wir nicht beobachtet und auch der Biber schien nicht aktiv gewesen zu sein (# Blog 7). Die subantarktische Walddynamik gibt uns immer noch Rätsel auf. Aber nicht nur uns, die wir aus der anderen Hemisphäre angereist waren, sondern auch den hiesigen Ökologen. Dies erschloss sich aus den Diskussionen, die sich nach unserer Tour ergaben. Sogleich zeichneten sich neue Projektideen für die nächste Zukunft ab …

Wir schlugen uns tapfer bis kurz vor das nördliche Seeufer durch und beschlossen dann, noch ein paar Höhenmeter zu machen, um uns im oberen Hangbereich umzuschauen. Und dann plötzlich waren wir mittendrin. Es war, als hätte sich ein Vorhang gehoben, der den Wald bis dahin vor uns verborgen gehalten hatte. Plötzlich standen wir inmitten der wohl 400-jährigen Lenga-Südbuchen. Hier gab es plötzlich auch Jungwuchs und Krautvegetation. Ich machte mich auf die Suche nach dem oben erwähnten Endemiten Lebetanthus myrsinites, während Christian die Flechten an den hohen Altbäumen inspizierte (Abb. 14). Ich stieß auf ein Erikagewächs, das mir unvertraut erschien. Leider blühte es nicht und ich bin auch noch misstrauisch, ob es sich nicht einfach nur um ein murkeliges Exemplar der allgegenwärtigen Chilenischen Zwergscheinbeere (Gaultheria pumila) handelt. Nächste Woche werde ich die Pflanze in Punta Arenas dem Kurator der botanischen Sammlung an der Universität Magallanes vorlegen, vielleicht vermag er sich festzulegen.

Der Altwaldbestand war leider klein und sehr schnell waren wir hindurch. Wir hatten förmlich eine Stecknadel im Heuhaufen gefunden, und dieses Mal wurden natürlich Koordinaten genommen. Auf seiner anderen Seite schloss sich ein deutlich jüngerer Bestand an, in dem ich auf dem feuchten Waldboden noch eine zweite Hautfarn-Art fand, dieses Mal Hymenophyllum tortuosum. Sehr zufrieden mit den Erlebnissen und Funden diesen Tages machten wir uns von dort beschwingt auf den dreistündigen Rückweg und kamen nach insgesamt elf Stunden todmüde wieder in unserem Quartier an – gerade rechtzeitig, um einer Truppe von Kolleg*innen ins Restaurant zu folgen.
Es gab Empanadas, gefüllt mit Königskrabbe.

Abb. 1 Torfmyrte (Gaultheria mucronata) blüht und fruchtet zur Zeit gleichzeitig. Die Beeren sind essbar.
Abb. 1 Torfmyrte (Gaultheria mucronata) blüht und fruchtet zur Zeit gleichzeitig. Die Beeren sind essbar.
Abb. 2 Wasserfall am Río Róbalo mit steilen, von feuchtigkeitsliebenden Moosen und Hautfarnen bewachsenen Felsen.
Abb. 2 Wasserfall am Río Róbalo mit steilen, von feuchtigkeitsliebenden Moosen und Hautfarnen bewachsenen Felsen.
Abb. 3 Der südhemisphärisch verbreitete Hautfarn Hymenophyllum peltatum, der typischerweise den Boden feuchter Wälder in den Tieflagen besiedelt.
Abb. 3 Der südhemisphärisch verbreitete Hautfarn Hymenophyllum peltatum, der typischerweise den Boden feuchter Wälder in den Tieflagen besiedelt.
Abb. 4 Notogrammitis angustifolia, eine kleine südhemisphärische Farnart, die in feuchter Umgebung an Felsen und in Felsspalten, aber auch auf Baumstämmen zu finden ist.
Abb. 4 Notogrammitis angustifolia, eine kleine südhemisphärische Farnart, die in feuchter Umgebung an Felsen und in Felsspalten, aber auch auf Baumstämmen zu finden ist.
Abb. 5 Die Flechte Placopsis auf Felsen. Typisch für die Gattung sind die dunkelgefärbten Cephalodien, in denen die luftstickstofffixierenden Cyanobakterien hausen.
Abb. 5 Die Flechte Placopsis auf Felsen. Typisch für die Gattung sind die dunkelgefärbten Cephalodien, in denen die luftstickstofffixierenden Cyanobakterien hausen.
Abb. 6 Das Greiskraut Senecio smithii fällt durch seine Größe und Mastigkeit auf und ist auf Navarino in nassen, baumlosen Senken zu beobachten, die häufig durch Biberaktivität entstehen.
Abb. 6 Das Greiskraut Senecio smithii fällt durch seine Größe und Mastigkeit auf und ist auf Navarino in nassen, baumlosen Senken zu beobachten, die häufig durch Biberaktivität entstehen.
Abb. 7 Fernblick über ein im Talgrund gelegenes Heidemoor.
Abb. 7 Fernblick über ein im Talgrund gelegenes Heidemoor.
Abb. 8 Tetroncium magellanicum, eine Art der südlichen südamerikanischen Moore aus der Familie der Dreizackgewächse (Juncaginaceae).
Abb. 8 Tetroncium magellanicum, eine Art der südlichen südamerikanischen Moore aus der Familie der Dreizackgewächse (Juncaginaceae).
Abb. 9 Immergrüner Strauch Escallonia serrata; typischerweise wie hier in feuchten Ufergebüschen anzutreffen. Endemit in der chilenischen Región de Magallanes.
Abb. 9 Immergrüner Strauch Escallonia serrata; typischerweise wie hier in feuchten Ufergebüschen anzutreffen. Endemit in der chilenischen Región de Magallanes.
Abb. 10 Der Bärlapp Austrolycopodium confertum auf steinigem Substrat am Ufer des Lago Róbalos.
Abb. 10 Der Bärlapp Austrolycopodium confertum auf steinigem Substrat am Ufer des Lago Róbalos.
Abb. 11 Panoramablick vom Südufer des Lago Róbalo auf den Gebirgszug „Dientes de Navarino“.
Abb. 11 Panoramablick vom Südufer des Lago Róbalo auf den Gebirgszug „Dientes de Navarino“.
Abb. 12 Die hübsche Perezia magellanica aus der Familie der Korbblütler (Asteraceae). Sie ist an Moore, Sümpfe und feuchtes Grünland des südlichen Südamerikas gebunden.
Abb. 12 Die hübsche Perezia magellanica aus der Familie der Korbblütler (Asteraceae). Sie ist an Moore, Sümpfe und feuchtes Grünland des südlichen Südamerikas gebunden.
Abb. 13 Immergrüner Südbuchenbestand mit hohem liegendem Totholzanteil. Es ist weder eine nennenswerte Strauch- noch eine Krautschicht ausgebildet. Erinnert entfernt an unsere Hallenbuchenwälder.
Abb. 13 Immergrüner Südbuchenbestand mit hohem liegendem Totholzanteil. Es ist weder eine nennenswerte Strauch- noch eine Krautschicht ausgebildet. Erinnert entfernt an unsere Hallenbuchenwälder.
Abb. 14 Im Altwald. Christian inspiziert die Flechtenflora an einer der alten Südbuchen.
Abb. 14 Im Altwald. Christian inspiziert die Flechtenflora an einer der alten Südbuchen.
Abb. 15: Hymenophyllum tortuosum, ein Hautfarn des südlichen Südamerikas am Boden eines feuchten Südbuchenbestandes.
Abb. 15 Hymenophyllum tortuosum, ein Hautfarn des südlichen Südamerikas am Boden eines feuchten Südbuchenbestandes.