Säugetiere: Mehr Bewegung während der Corona-Lockdowns
Wildtiere legten über 70 Prozent längere Strecken in der „Anthropause“ zurück
Die Beschränkungen in den ersten Monaten der COVID-19-Pandemie führten weltweit zu Verhaltensänderungen bei Landsäugetieren. Dies geht aus einer heute im renommierten Fachjournal „Science“ veröffentlichten Studie eines großen internationalen Forschungsteams unter der Leitung von Dr. Marlee Tucker von der Radboud-Universität und Senckenberg-Wissenschaftler Prof. Dr. Thomas Müller hervor. Wildlebende Säugetiere legten im Vergleich zum Vorjahr während der strengen Lockdowns bis zu 73 Prozent längere Strecken zurück und hielten sich 36 Prozent näher an Straßen auf.
Goldschakale in Tel Aviv, durch Santiago streifende Pumas und Bären auf Talgang in Südtirol – zahlreiche Medien berichteten, während der aufgrund der Covid-19-Pandemie verhängten, Lockdowns von zunehmendem tierischem Leben in sonst menschlich dominierten Lebensräumen. „Uns hat interessiert: Gibt es für diese erstmal subjektive Wahrnehmung auch wissenschaftliche Belege? Oder waren die Menschen beispielsweise einfach aufmerksamer, als sie zu Hause waren?“, erklärt Dr. Marlee Tucker, Erstautorin der Studie und Ökologin an der Radboud-Universität im niederländischen Nijmegen.
Um diese Frage zu beantworten analysierten Tucker und 174 weitere Forschende, darunter auch Mitglieder der COVID-19 Bio-Logging-Initiative, globale Bewegungsdaten von 43 in ländlichen Gebieten lebenden Säugetierarten. Grundlage hierfür bildeten GPS-Daten von mehr als 2300 Tieren: von Elefanten und Giraffen bis hin zu Bären und Hirschen. Die Forscher*innen verglichen die Bewegungen der Säugetiere während des Zeitraums des ersten Lockdowns, von Januar bis Mitte Mai 2020, mit den Bewegungen in den gleichen Monaten des Vorjahres.
„Unser Daten zeigen, dass die besenderten Tiere während der strengen Lockdowns in einem Zeitraum von zehn Tagen bis zu 73 Prozent längere Strecken zurücklegten als im Jahr zuvor, als es noch keine Beschränkungen gab. Wir konnten zudem feststellen, dass sie sich im Durchschnitt 36 Prozent näher an Straßen aufhielten als im Vorjahr. Das ist sicherlich damit zu erklären, dass es in diesem Zeitraum sehr viel weniger Straßenverkehr gab“, so Tucker. Eine Reihe von artspezifischen Fallstudien deckt sich mit den Ergebnissen des internationalen Forschungsteams: So gibt es Belege dafür, dass sich Pumas (Puma concolor) während des Lockdowns über Stadtgrenzen bewegten, die Häufigkeit von Stachelschweinen (Hystrix cristata) in städtischen Gebieten zunahm, die Tagesaktivität des invasiven Florida-Waldkaninchen (Sylvilagus floridanus) stieg und Braunbären (Ursus arctos) neue Verbindungskorridore nutzten.
„Während der strengen Lockdowns hielten sich sehr viel weniger Menschen im Freien auf, was den Tieren die Möglichkeit gab, neue Gebiete zu erkunden“, erläutert Prof. Dr. Thomas Müller vom Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrum und der Goethe-Universität Frankfurt, der die Studie zusammen mit Tucker entwickelte. Er fährt fort: „In Gebieten mit weniger strengen Auflagen konnten wir im Gegensatz dazu beobachten, dass Säugetiere kürzere Strecken als im Vorjahr zurücklegten. Dies könnte damit zusammenhängen, dass während dieser Zeiträume die Menschen ermutigt wurden, in die Natur zu gehen. Infolgedessen waren einige Naturgebiete stärker frequentiert als vor der Corona-Pandemie – mit Auswirkungen auf die Säugetierfauna.“
Die „Anthropause“ bot den Forschenden eine einzigartige – und unerwartete – Gelegenheit, die Auswirkungen einer abrupten Veränderung der menschlichen Präsenz auf die Tierwelt zu untersuchen. „Wir zeigen mit unseren Ergebnissen, dass die Mobilität des Menschen eine wichtige Triebkraft für das Verhalten einiger Landsäugetiere ist, und zwar in einem Ausmaß, das möglicherweise mit dem von Landschaftsveränderungen vergleichbar ist. Unsere Forschung belegt zudem, dass Tiere direkt auf Veränderungen im menschlichen Verhalten reagieren können. Das lässt für die Zukunft hoffen – denn im Prinzip bedeutet dies, dass sich eine Anpassung unseres eigenen Verhaltens auch positiv auf die Tierwelt und die von ihr bereitgestellten Ökosystemfunktionen auswirken kann“, fasst Tucker zusammen.