Zizka und Starke-Ottich zeigen unter anderem, was geschieht, wenn wir die Pflege ausgewählter Grünflächen zumindest für eine gewisse Zeit aussetzen oder auf ein Minimum beschränken. Die städtische Wildnis ermöglicht nicht nur den urban lebenden Menschen wichtige Naturerfahrungen vor der Haustür, sie trägt auch zu einer höheren Artenvielfalt im städtischen Raum bei. Dabei betrachten die Autor*innen Wildnisflächen, die in ihrer Entstehungsgeschichte recht gegensätzlich sind.
Das Projekt „Städte wagen Wildnis – Vielfalt erleben“ wurde von 2016 bis 2021 u. a. in Frankfurt vom Umweltamt durchgeführt und durch die Arbeitsgruppe Biotopkartierung am Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum wissenschaftlich begleitet. Zizka und Starke-Ottich ziehen im vorliegenden Buch ein Resümee zum Ende des Projekts und nach der Kartierung von vier Vegetationsperioden. Insgesamt haben die Projektbeteiligten am Monte Scherbelino und im Nordpark Bonames 1.167 Arten nachgewiesen. Zu diesem Ergebnis trugen auch zahlreiche Bürgerwissenschaftler*innen bei, die ihre Funde in Datenbanken wie iNaturalist eingegeben und der Wissenschaft zugänglich gemacht haben.
Die Forschenden kommen zu dem Ergebnis, dass die Projektflächen einen großen Anteil der Frankfurter Flora und Fauna ausmachen. „Am Monte Scherbelino und am Nordpark Bonames haben wir jeweils seltene, gefährdete und geschützte Tier- und Pflanzenarten gefunden“, sagt Georg Zizka und betont: „Die langfristige Sicherung beider Flächen als Wildnisflächen und Teil der Stadtnatur kann durch die vielfältige Artenausstattung zur Erhaltung der Artenvielfalt in Frankfurt beitragen“. Auch Indra Starke-Ottich unterstreicht die Bedeutung moderner Stadtbrachen: „Wie das Beispiel Monte Scherbelino zeigt, sind offene Flächen von besonderer Bedeutung für die Biodiversität. Wenn ausgewählte Bereiche sich natürlich entwickeln können, statt schnell aufgeforstet zu werden, kann die Natur ungemein davon profitieren“.
Neben diesen Formen der „Jungen Wildnis“, die sich seit einigen Jahren durch Sukzession entwickelt, existieren in Frankfurt auch Relikte „alter Wildnis“, wie zum Beispiel der Frankfurter Biegwald zwischen Bockenheim und Rödelheim. Die Forschenden untersuchen die Flora und Fauna dieses Überbleibsels der Auenwälder an der Nidda sowie die Veränderungen der Flora durch neu eingewanderte Arten. Dabei geht es auch um den Einfluss des Menschen auf das Naturgebiet und um die Herausforderung, eine Balance zwischen Erholungsnutzen und wirksamem Naturschutz zu finden.
Mit dem Frankfurter Hauptfriedhof und den Straßenbegleitflächen des Frankfurter Kreuzes nehmen Zizka und Starke-Ottich zwei sehr gegensätzliche Wildnisflächen in den Blick – beides große unversiegelte Flächen im Stadtgebiet. Der Verkehrsknotenpunkt ist geprägt von Lärm und Abgasen, der Friedhof von Ruhe und Stille. Die 31 ha Grünflächen des Frankfurter Kreuzes sind praktisch unzugänglich. Hier existieren artenreiche Offenlandlebensräume. Der rund 70 ha große Hauptfriedhof ist schon jetzt ein Biodiversitäts-Hotspot, nicht zuletzt weil es hier ein nächtliches Betretungsverbot gibt, alte Baumbestände existieren, eine zunehmend extensive Pflege betrieben wird und es keinen motorisierten Verkehr gibt.
Starke-Ottich und Zizka untersuchen schließlich auch „Wildniselemente im Siedlungsbereich“ und beschreiben, welche Funktionen etwa die Begrünung von Fassaden mit Efeu übernimmt. Auch die Vegetation von Pflasterfugen als „übersehene Stadtnatur“ ist Gegenstand ihrer Betrachtungen. Die Autor*innen sehen hier Potenzial, ohne zusätzlichen Flächenbedarf mehr Platz für Stadtnatur zu schaffen. „Die Untersuchung von Pflasterfugen belegt eine erstaunliche Artenvielfalt an diesen Standorten, sie dokumentiert aber auch, dass das Ergebnis stark vom jeweiligen Pflastertyp abhängt“, so Starke-Ottich. „Vernachlässigte Formen der Stadtnatur wie Pflasterfugen oder Baumscheiben rücken wieder mehr in den Fokus. Sie spielen eine wichtige Rolle, auch als Klimadienstleister“, erläutert der Wissenschaftler.
Die Forschenden argumentieren in ihrem Buch für das Zulassen und Einrichten weiterer Wildnisflächen in der Stadt. „Im Hinblick auf Biodiversität, Naturschutz und Umweltgerechtigkeit ist eine viel stärkere Verbreitung von Wildnisflächen wünschenswert“, hält Georg Zizka fest. Er sieht aber auch große Herausforderungen: „Der enorme Druck, weitere Flächen für Wohnraum, Gewerbe und Verkehr zu bebauen, konkurriert mit der Notwendigkeit, Stadtnatur zu entwickeln.“. Zudem gelte es, in der Stadtbevölkerung für mehr Akzeptanz und Verständnis zu werben, ergänzt Indra Starke-Ottich. „Wildnisflächen benötigen für ihre Entwicklung und Wertschätzung eine Mitwirkung der Bürgerschaft“, schließt die Wissenschaftlerin.
Publikation
Indra Starke–Ottich, Georg Zizka
Wildnis in Frankfurt
2022, 296 Seiten, 285 Abbildungen, 21 Tabellen, umfangreicher Anhang
(16 Tabellen),
durchgehend farbig, 17 x 22 cm, broschiert,
ISBN 978–3–510–61422–6, Senckenberg–Buch 87, 22,90 Euro
www.schweizerbart.de/9783510614226
Erscheinungstermin: 14. Oktober 2022
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