Zurück im Feuchtgebiet
Die Europäische Sumpfschildkröte erhält Unterstützung durch das Forschungsprojekt Emys-R
Frankfurt, 27.09.2022 Vom Zoo in die freie Natur – diesen Weg gingen in den vergangenen zehn Jahren insgesamt 650 Europäische Sumpfschildkröten im deutsch-französischen Grenzgebiet zwischen Neuburg am Rhein und Lauterbourg. Die letzte Gruppe wurde Mitte September 2022 im elsässischen Bioreservat Woerr in ihren natürlichen Lebensraum entlassen – um dort in den kommenden Jahren genau beobachtet zu werden. Ziel der Aktion ist eine Wiederansiedlung der laut Roter Liste vom Aussterben bedrohten Art in einem wiederhergestellten Feuchtgebiet. Einen neuen wissenschaftlichen Rahmen bildet seit 2022 das groß angelegte europäische Forschungsprojekt Emys-R, an dessen Leitung Dr. Kathrin Theissinger beteiligt ist, Wissenschaftlerin bei der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung und dem hessischen LOEWE-Zentrum für Translationale Biodiversitätsgenomik (LOEWE-TBG). Neben ökologischen stehen dort auch gesellschaftliche Aspekte im Blickpunkt.
In Europa ist die Europäische Sumpfschildkröte (Emys orbicularis) die einzige natürlich vorkommende Schildkrötenart im Süßwasser. So scheinen sich die freigelassenen Reptilien in ihrem neuen Zuhause auch gleich wohlzufühlen – doch unbeobachtet bleiben sie im seichten Wasser des elsässischen Naturschutzgebietes nicht: Bewegungsradius und Bestandsentwicklung werden in monatlichen Studien von April bis September genau dokumentiert, bevor die Schildkröten zur Winterstarre abtauchen. Für die Bewegungsanalysen sind die Tiere mit Mikrochips ausgestattet. Auch Kotproben werden genommen, um durch genomische Analysen in den LOEWE-TBG-Laboren Rückschlüsse auf ihre Nahrung zu ziehen. Parallel dazu werden Wasserproben untersucht: Das sogenannte Metabarcoding von Umwelt-DNA (eDNA) ermöglicht es, die gesamte Biodiversität der renaturierten Gewässer zu erfassen. Anhand des genomischen Vergleichs von Kot und Wasser lässt sich dann das potenzielle Nahrungsangebot mit der tatsächlich konsumierten Nahrung der Schildkröten abgleichen. Die Ergebnisse geben Informationen dazu, wie sich die Rückkehr der Reptilien in die Oberrheinauen auf die dortige Artenvielfalt auswirkt.
Die schwarze Wasserschildkröte mit gelben Flecken auf der Haut, die bis zu 20 Zentimeter groß und gut 80 Jahre alt werden kann, ist fast ausgestorben: In Europa, wo seit dem 18. Jahrhundert rund 90 Prozent der Feuchtgebiete verschwanden, hat sie den stärksten Rückgang aller Reptilien erlitten. Dabei spielt die gut erforschte Allesfresserin eine zentrale Rolle für das Gleichgewicht der Ökosysteme im Gewässer. Daher gilt sie auch als Schirmart für Biodiversität: Wird die Europäische Sumpfschildkröte erhalten, profitieren ebenso andere Arten davon.
Dies entspricht dem Ansatz des Projekts Emys-R. Das handlungsorientierte, partizipative Forschungsprojekt zielt darauf ab, die wirksamsten ökologischen Methoden herauszuarbeiten, die zur Wiederherstellung von Feuchtgebieten und zur Wiederansiedlung der Europäischen Sumpfschildkröte beitragen und damit auch die lokale biologische Vielfalt stärken. Wichtig ist den beteiligten Forschenden dabei, dass die entsprechenden Maßnahmen auch von der Bevölkerung befürwortet werden.
„In unserem Projekt bewerten wir zum einen die Auswirkungen der Auswilderung auf das Ökosystem und damit die generelle Relevanz solcher Naturschutzmaßnahmen. Parallel untersuchen wir durch Befragungen, wie die Schutzmaßnahmen in der Bevölkerung wahrgenommen werden. Mit diesem transdisziplinären Ansatz wollen wir herausfinden, ob die Sumpfschildkröte als Botschafterin für Feuchtgebiete dafür sorgen kann, die Bevölkerung wieder stärker mit der Natur zu verbinden – und speziell mit dem für die Biodiversität so wichtigen Ökosystem Feuchtgebiet“, erläutert Senckenberg- und LOEWE-TBG-Forscherin Dr. Kathrin Theissinger, Projekt-Managerin von Emys-R. „Dafür bringen wir Forschende aus ganz Europa und ihre bisherigen Methoden und Erfahrungen in dem neuen Forschungsnetzwerk zusammen.“
Theissinger leitet das Projekt gemeinsam mit Dr. Jean-Yves Georges vom Institut Pluridisciplinaire Hubert Curien (IPHC) am Centre National de la Recherche Scientifique (CNRS) in Strasbourg. Die beiden Forschenden arbeiten seit vier Jahren gemeinsam an dem grenzüberschreitenden Schildkröten-Monitoring. Beteiligt ist seit diesem Jahr auch Johannes Meka, ebenfalls bei Senckenberg und LOEWE-TBG tätig. In seiner Dissertation untersucht er die Entwicklung der Schildkrötenpopulationen und Nahrungsnetzwerke. „Mittels eDNA untersuchen wir alle extra für diese Wiederansiedlung neu angelegten Gewässer zwischen den fünf Kilometer voneinander entfernten Auswilderungsorten, um festzustellen, welche Tümpel von den Schildkröten für ihre weitere Ausbreitung genutzt werden. Dieses Jahr haben wir zum ersten Mal eine Schildkröte aus Deutschland im Elsass entdeckt. Das ist ein großer Erfolg für das Gesamtprojekt“, so Meka.
Um die Wiederansiedlung aus den unterschiedlichen Perspektiven analysieren zu können, beteiligen sich zahlreiche Partner aus natur-, geistes- und gesellschaftswissenschaftlich ausgerichteten Institutionen sowie Zoos, in denen die Schildkröten im Rahmen des europäischen Zuchtprogramms für bedrohte Arten (EEP) gezüchtet werden. Finanziert wird das von Theissinger eingeworbene Projekt Emys-R von 2022 bis 2025 mit einer Summe von einer Million Euro im Rahmen der EU-Ausschreibung „BiodivERsA – BiodivRestore“.
„Emys-R: Eine multidisziplinäre sozio-ökologische Bewertung von Programmen zur Wiederherstellung von Feuchtgebieten zugunsten der Wiederansiedlung der emblematischen europäischen Sumpfschildkröte und der damit verbundenen Biodiversität: ein gesamteuropäischer Ansatz“. Emys-R wird über die gemeinsame Aufforderung zur Einreichung von Forschungsvorschlägen 2020–2021 von BiodivERsA & Water JPI im Rahmen des Programms BiodivRestore ERA-Net COFUND und von den Förderorganisationen Agence Nationale de la Recherche (ANR, Frankreich), Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF, Deutschland), Staatliche Agentur für Bildungsentwicklung (VIAA, Lettland) und Nationales Wissenschaftszentrum (NSC, Polen) finanziert.
Mehr Informationen unter: https://emysr.cnrs.fr/ und https://www.biodiversa.org/2028/download
Das LOEWE-Zentrum für Translationale Biodiversitätsgenomik (LOEWE-TBG) bündelt Forschende in Hessen, die die genetische Basis der biologischen Vielfalt untersuchen. Wir sequenzieren und analysieren die genomische Diversität quer durch den Baum des Lebens (Flechten, Pilze, Pflanzen und Tiere), um sowohl den Ursprung als auch die funktionellen Anpassungen der Vielfalt von Genen bis zu Ökosystemen zu verstehen. Das Ziel ist es dabei, diese biologische Vielfalt auf genomischer Ebene zu dokumentieren, zu schützen und zu nutzen – damit wir noch morgen eine Welt haben, die artenreich und lebendig ist.
Das Zentrum ist eine gemeinsame Forschungseinrichtung der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung, der Goethe-Universität Frankfurt, der Justus-Liebig-Universität Gießen, des Fraunhofer-Instituts für Molekularbiologie und Angewandte Oekologie IME, des Fraunhofer-Instituts für Translationale Medizin und Pharmakologie ITMP und des Max-Planck-Instituts für terrestrische Mikrobiologie. Finanziert wird es von der Hessischen Landes-Offensive zur Entwicklung Wissenschaftlich-ökonomischer Exzellenz (LOEWE).
Mehr Informationen unter https://tbg.senckenberg.de/