#2: Zu den südlichsten Wäldern der Welt … und darüber hinaus

Ein Reisebericht von Dr. Birgit Kanz

Dr. Christian Printzen und Dr. Birgit Kanz, Wissenschaftler*innen vom Senckenberg For-schungsinstitut Frankfurt, sind unterwegs nach Puerto Williams am südlichsten Zipfel Feuerlands. Sie wollen auf der chilenischen Isla Navarino die Biodiversität der Flechten und Pflanzen erforschen und – nicht zuletzt – grandiose Landschaften und unberührte Natur genießen.

Mit ihren Reiseberichten hier auf dem Mitglieder-Blog (immer am Freitag, wenn dies die Umstände zulassen) lässt uns Birgit Kanz teilhaben an ihren Erfahrungen, Begegnungen und wissenschaftlichen Erkenntnissen in den südlichsten Wäldern der Welt – und dar-über hinaus.

#2 Ankunft in Puerto Williams

Puerto Williams, 28. November 2021

Das Warten auf den Weiterflug nach Puerto Williams bescherte uns einen Ferientag in Punta Arenas. Diesen nutzten wir für einen Streifzug durch die Stadt, bei dem wir auf vielerlei Bekanntes stießen.
Vier Tage nach unserer Abreise aus Frankfurt trafen wir dann endlich an unserem Ziel ein: Puerto Williams auf der Isla Navarino im äußersten Süden der Región de Magallanes. Mit Sonnenschein und angenehm frühlingshaften Temperaturen zeigte sich unsere neue Umgebung gleich von ihrer besten Seite, und wir fühlten uns mehr als entschädigt für die mühsamen Reisevorbereitungen.

Verschiedentliche Wiedersehen
Der vierstündige Flug von Santiago de Chile nach Punta Arenas in die Nacht hinein verging rasch. Ausgiebig konnten wir den traumhaften Sonnenuntergang über den Küstenkordilleren bewundern, denn so weit im Süden sind die Tage während des Sommers herrlich lang. Da wir auf den Weiterflug nach Puerto Williams warteten – pandemiebedingt erfolgen die Flüge zurzeit nicht täglich –, war uns in Punta Arenas ein Ferientag vergönnt. Wir hatten also Gelegenheit, bekannte und liebgewonnene Lokalitäten (im weiteren Sinne!) aufzusuchen und Veränderungen im Stadtbild auszumachen (Abb. 1). Christian war morgens zu einem Interview mit der Regionalzeitung verabredet (den Artikel auf Spanisch finden Sie hier). Diese war im Vorfeld von unserem Gastgeber über unseren Besuch informiert worden und wollte nun aus erster Hand Informationen über Sinn und Zweck des langen Aufenthaltes auf Isla Navarino. Ich werde später noch einmal darauf zurückkommen.
Währenddessen führte mich mein Weg hinunter zum Strand, wo ich an gewohnter Stelle die Felsenscharben (Leucocarbo magellanicus) begrüßte und über die Magellanstraße hinweg unser Reiseziel zu erahnen suchte (Abb. 2).
Mein Lieblingscafé „Imago“, in dem ich schon 2015 lieber als im nahegelegenen Hotel die Wartezeit verbracht hatte, sah leider nicht gut aus. Es hatte offensichtlich die Corona-Zeit nicht überstanden und leider schließen müssen (Abb. 3). Ich setzte also meinen Strandspaziergang fort und botanisierte dabei ein wenig, fand aber ausschließlich mir aus der Heimat bekannte Arten: Strandhafer, Weißklee, Spitzwegerich, Kleiner Sauerampfer, Massen von Gänseblümchen und oft monströsen Löwenzähnen. Auf dem Deich entdeckte ich ein großes Vorkommen von Mausohr-Habichtskraut (Abb. 4).
An anthropogen beeinflussten Standorten dominieren diese „exotischen“ Arten, als gäbe es keine einheimischen Ruderalarten. Meine Neugier war geweckt, und als ich zu diesem Thema ein wenig recherchierte, fand ich heraus, dass es in der hiesigen Region insgesamt 216 exotische Taxa gibt. Das müssten etwa 20 % der regionalen Gesamtflora sein, also ein sehr hoher Anteil. Sie verteilen sich auf 35 Familien und 131 Gattungen. Die Familien mit dem größten Artenvorkommen sind Poaceae (Gräser) mit 48 Arten, Asteraceae (Korbblütler) mit 31 Arten und Fabaceae (Schmetterlingsblütler) mit 24 Arten. Zu Letzteren gehören auch die attraktiven Vertreter, die gerade überall in der Stadt blühen (Abb. 4, 5, 6).
Christian und ich waren zuvor nie gemeinsam in Punta Arenas gewesen, hatten aber unabhängig voneinander dieselben Restaurants als unsere Favoriten auserkoren. Zur Beruhigung unserer windzerzausten Gemüter legten wir in einem Hafenbistro einen ersten Stopp zum Fischsuppenessen mit Blick auf die einlaufenden Kreuzfahrtschiffe ein (Abb. 7). Am Abend suchten wir das gemütliche „La Luna“ auf – das Restaurant hat ein ganz besonderes Flair und originelle Gerichte auf der Karte. Das Essen war zwar vor sechs Jahren eindeutig besser gewesen, aber begleitet von einem guten chilenischen Cabernet Sauvignon und dem ein oder anderen Glas Calfate Sour beziehungsweise Pisco Sour beschlossen wir gutmütig, dass es allemal lecker war (Abb. 8)

Programm zur Erhaltung der biokulturellen Vielfalt in der Subantarktis
An dieser Stelle möchte ich etwas genauer auf den Kontext unsere Reise eingehen: Während ich nach einem Platz nahe der Antarktis suchte, um dort ein paar Wochen zusammenhängend an einem Buch arbeiten zu können, wollte Christian zusammen mit Ricardo Rozzi, einem chilenischen Philosophen und Ökologen, eine alte Projektidee umsetzen. Die beiden kennen sich über einen gemeinsamen Kollegen in Madrid. Dieser hatte den Kontakt hergestellt, als Christian für ein Forschungsprojekt nicht nur Populationen ausgewählter Flechtenarten in der Antarktis, sondern auch auf dem nahegelegenen südamerikanischen Kontinent sammeln musste und dafür infrastrukturelle Hilfe benötigte.
Ricardo Rozzi ist Professor am Institut für Philosophie und Religion der Universität Magallanes in Punta Arenas sowie Präsident und Forschungsleiter am Institut für Ökologie und Bio-diversität (IEB Chile). Darüber hinaus lehrt er am Fachbereich für Philosophie und Religion an der University of North Texas und ist weiterhin stellvertretender Vorsitzender des Zent-rums für Umweltphilosophie in den USA. Von diesen Institutionen aus leitet er den „Ethnobotanischen Park Omora“ (Parque Etnobotánico Omora) in Puerto Williams, ein Forschungs-, Bildungs- und Naturschutzzentrum samt eines „Programms zur Erhaltung der biokulturellen Vielfalt in der Subantarktis“ (Programa de Conservación Biocultural Subantártica).
Dieses internationale und interdisziplinäre Programm zielt darauf ab, sowohl die biologische als auch die kulturelle Vielfalt des Landes in dessen nachhaltige Entwicklung zu integrieren. Dies kann zum Beispiel durch Einbeziehung der biologischen Vielfalt in die sozioökonomische Entwicklung des Tourismussektors geschehen – Stichwort Ökotourismus. Das Programm hat unter anderem im Jahr 2005 zur großräumigen Absicherung der Region als UNESCO-Biosphärenreservat („Reserva de la biosfera Cabo de Hornos“) geführt, das drei Nationalparks umfasst: „Parque Nacional Caba de Hornos“, „Parque Nacional Alberto de Agostini“ und „Parque Nacional Yendegaia“ (Abb. 9).
Doch zurück in die Gegenwart. Bei seinem letzten Besuch in Puerto Williams übernachtete Christian in einem winzigen Hostel; dieses Mal sind wir wesentlich bequemer in einem Ge-bäude des IEB untergebracht. Es steht Forscher*innen und Student*innen sowie anderen Be-sucher*innen aus dem In- und Ausland als Stützpunkt zur Verfügung, wenn sie hier arbeiten. Das Hostel liegt in traumhafter nördlicher Hanglage und bietet einen spektakulären Ausblick auf den Beagle-Kanal und die Ausläufer der Cordillera Darwin drüben auf argentinischem Territorium. Ausgestattet mit diversen Büros, Arbeits- und Laborräumen sowie mit Küche, Bädern und Schlafräumen bietet das Haus alles für einen angenehmen Arbeitsaufenthalt. Die Belegung scheint hier ständig zu wechseln, jedenfalls entdeckte ich bislang täglich neue Gesichter. Unabhängig davon begegnen uns alle sehr freundlich und überaus hilfsbereit, wenn wir uns mit unseren rudimentären Spanischkenntnissen durchschlagen (Abb. 10)
Schnell war unser Zimmer mit Balkon im ersten Stockwerk bezogen und der Einkauf fürs Wochenende erledigt (Abb. 11, 12). Wir konnten zu unserem ersten Erkundungsgang in den Wald in der Nähe des Ortes aufbrechen. Doch davon mehr im nächsten Beitrag.

Abb. 1: Blick vom Aussichtspunkt im Norden von Punta Arenas nach Südosten.
Abb. 1: Blick vom Aussichtspunkt im Norden von Punta Arenas nach Südosten.
Abb. 2: Steg in Punta Arenas mit Felsenscharben (Leucocarbo magellanicus) und Weitblick über die Magellanstraße nach Südosten.
Abb. 2: Steg in Punta Arenas mit Felsenscharben (Leucocarbo magellanicus) und Weitblick über die Magellanstraße nach Südosten.
Abb. 3: Strandcafé Imago und Hotel Diego de Almagro in Punta Arenas.
Abb. 3: Strandcafé „Imago“ und Hotel „Diego de Almagro“ in Punta Arenas.
Abb. 4: Deichvegetation in Punta Arenas mit zahlreichen Einwanderern aus Europa.
Abb. 4: Deichvegetation in Punta Arenas mit zahlreichen Einwanderern aus Europa.
Abb. 5: Strauchlupine (Lupinus arboreus) am Strand von Punta Arenas.
Abb. 5: Strauchlupine (Lupinus arboreus) am Strand von Punta Arenas.
Abb. 6: „Edelginster“ – beliebte Zierstrauchform des Besenginsters (Cytisus scoparius) in den Straßen von Punta Arenas.
Abb. 6: „Edelginster“ – beliebte Zierstrauchform des Besenginsters (Cytisus scoparius) in den Straßen von Punta Arenas.
Abb. 7: Pulmay, eine typische Suppe aus dem Süden Chiles auf der Basis von Meeresfrüchten und Fleisch.
Abb. 7: Pulmay, eine typische Suppe aus dem Süden Chiles auf der Basis von Meeresfrüchten und Fleisch.
Abb. 8: Christian im Restaurant „La Luna” in Punta Arenas
Abb. 8: Christian im Restaurant „La Luna” in Punta Arenas
Abb. 9: Leicht rechts im Hintergrund der Stützpunkt während unseres Forschungsaufenthaltes in Puerto Williams.
Abb. 9: Leicht rechts im Hintergrund der Stützpunkt während unseres Forschungsaufenthaltes in Puerto Williams.
Abb. 10: Unser Domizil aus der Nähe.
Abb. 10: Unser Domizil aus der Nähe.
Abb. 11: Ausblick auf viel Himmel, den Beagle-Kanal und die argentinische Cordillera Darwin in nordwestlicher Richtung.
Abb. 11: Ausblick auf viel Himmel, den Beagle-Kanal und die argentinische Cordillera Darwin in nordwestlicher Richtung.
Abb. 12 Blick nach Nordosten über Puerto Williams hinweg auf den Beagle-Kanal und auf die argentinische Cordillera Darwin.
Abb. 12 Blick nach Nordosten über Puerto Williams hinweg auf den Beagle-Kanal und auf die argentinische Cordillera Darwin.