Neues Museum Zukunft Visualisierung_klein

Ein Ort zum Staunen und (konstruktiven) Streiten


Wie können Naturkundemuseen dazu beitragen, die im System Erde–Mensch dringend notwendig gewordenen Transformationen zu unterstützen? Katrin Böhning-Gaese, bei Senckenberg für das Programm „Wissenschaft & Gesellschaft“ verantwortlich, stellt das kürzlich erarbeitete Konzept für den Umbau des Frankfurter Hauses vor. Vier Leitfragen strukturieren unser Konzept für das neue Senckenberg Naturmuseum.

Das wollen wir im Neuen Naturmuseum vermitteln:

// Das System Erde und vor allem das System Erde–Mensch sind komplex und dynamisch.

// Die Biodiversität spielt im System Erde eine zentrale Rolle, ist aber durch das Wirken des Menschen massiv bedroht.

// Der Mensch kann das System Erde–Mensch nachhaltig gestalten.

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Welche sind die inhaltlichen Schwerpunkte des neuen Naturmuseums?

Senckenberg ist eine Spitzenforschungseinrichtung auf Weltniveau. Wir untersuchen die Rolle der Biodiversität in der Dynamik des Systems Erde in einem ganzheitlichen, systemischen Ansatz, das heißt in Wechselwirkung mit Atmosphäre, Hydrosphäre, Geosphäre und Anthroposphäre. Hierbei kann Senckenberg mit seinen wissenschaftlichen Sammlungen und über 40 Millionen Objekten auf bedeutende Archive des Lebens und der Umwelt zurückgreifen.

In der Geobiodiversitätsforschung spielt die Wechselbeziehung Erde–Mensch eine zentrale Rolle: Die Erde stellt uns auf der einen Seite zahlreiche materielle und nicht materielle Ökosystemleistungen (Nahrung, Baustoffe, Medizin, aber auch Spiritualität und Identität) zur Verfügung, der Mensch auf der anderen Seite nimmt durch sein Handeln Einfluss auf den Planeten – mit dem Effekt, dass sich das System Erde massiv verändert und auch die Ökosystemleistungen zunehmend erodieren.

Im Angesicht dieses Wandels darf der Mensch in dem nach ihm benannten Zeitalter, dem Anthropozän, nicht an bestehenden Strukturen und Gewohnheiten festhalten. Es liegt an ihm, Verantwortung zu übernehmen und das Erdsystem aktiv und vor allem nachhaltig zu gestalten.

Affe-Mensch

Vier neue Themenbereiche

Senckenberg hat 2017 für das Neue Naturmuseum ein Konzept entwickelt, das vier Themenbereiche vorsieht:

  1. Mensch
  2. Erde
  3. Kosmos
  4. Zukunft

Im Bereich Mensch stellen wir dar, wer wir sind und woher wir kommen, wir lernen unseren Körper als System zu verstehen.

Die Vergangenheit und Gegenwart unseres Planeten mit seinen Lebensformen stehen im Mittelpunkt des Bereichs Erde.

Im Bereich Kosmos widmen wir uns den Dimensionen von Zeit und Raum. Ein Planetarium ist fest geplant, in dem unsere Besucher*innen einen Blick ins All werfen können.

In welcher Welt wir leben werden und wollen und wie solche Zukunftsprognosen entstehen, ist Kernthema des vierten Bereichs Zukunft.

Das Neue Naturmuseum ist „authentisch“, das heißt an unserer Forschung und unseren Sammlungsobjekten orientiert. Die Zielgruppen reichen von Familien mit Kindern und Vorschulgruppen & Schüler*innen über Tourist*innen bis Expert*innen und Fachpublikum, Studierende & junge Expert*innen sowie Senior*innen. Das Museum wird zum Schaufenster der Wissenschaft und die Besucher*innen zu staunenden Beobachter*innen, aber noch viel wichtiger: zu gestaltenden Akteur*innen.

Mit unserem neuen Konzept reagieren wir auch auf die Veränderungen in der Gegenwart: Globale Bedrohungen wie Klimawandel und Artensterben rufen die Wissenschaft immer häufiger auf den Plan. Doch auch ihre Ergebnisse müssen kritisch hinterfragt werden. Als Forschungsmuseum der Leibniz-Gemeinschaft möchte sich Senckenberg stärker in den gesellschaftlichen Diskurs einbringen und Transformationen anstoßen und unterstützen. 

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Naturkundemuseen sind Orte des Dialogs, an denen verschiedene gesellschaftliche Gruppen in einem wissenschaftlichen Umfeld zusammenkommen, kritisch und konstruktiv miteinander sprechen und auch streiten können.

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Sind Museen Orte des Staunens oder des Streitens?

Viele Menschen besuchen naturkundliche Museen um der Unterhaltung willen. Wer wünscht sich nicht, einen schönen, inspirierenden und spannenden Tag zu erleben?

Gleichzeitig sollen Naturkundemuseen aber auch eine kritische Diskussion über den Einfluss des Menschen auf die Natur und die Bedrohung der Erde ermöglichen. Museen sind wie keine andere Institution in der Lage, zwischen Wissenschaft und Gesellschaft zu vermitteln; sie sind Orte des Dialogs, an denen verschiedene gesellschaftliche Gruppen in einem wissenschaftlichen Umfeld zusammenkommen, kritisch, widersprüchlich und konstruktiv miteinander diskutieren und auch streiten können.

Naturkundliche Museen sind „Schmelztiegel“, die Besucher*innen aus allen gesellschaftlichen Schichten und Kulturkreisen anziehen und zusammenbringen. Sie ermöglichen den Austausch über gesellschaftliche „Blasen“ hinweg und unterstützen die gemeinsame Erarbeitung von Lösungen für die Zukunft von Mensch und Erde.

Ein leuchtendes Beispiel dafür ist die neue Senckenberg-Ausstellung „Zukunft gestalten“, in der jede*r Besucher*in Stellung beziehen kann, wie er*sie im Jahr 2040 gerne leben möchte und was notwendig ist, um dieses Ziel zu verwirklichen. Auf diese Weise ermöglichen naturkundliche Museen die Teilhabe unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen bei der Erarbeitung von Lösungen, fördern den gesellschaftlichen Zusammenhalt und tragen zu Demokratie und der Entwicklung einer Wissensgesellschaft bei.

Das Museum wird zum Schaufenster der Wissenschaft und die Besucher zu staunenden Beobachter*innen, aber noch viel wichtiger: zu gestaltenden Akteur*innen.

Prof. Dr. Katrin Böhning-Gaese

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Welche Rolle spielt die Forschung für die Gesellschaft?

Es ist unumstritten, dass Wissenschaft und Forschung für die Weiterentwicklung der Menschheit einen zentralen Beitrag leisten: Die Fortschritte beispielsweise in Technik, Medizin, Energieversorgung oder Bildungssystemen sind ohne Wissenschaft und Forschung nicht möglich und erlauben den Menschen im Vergleich zu früheren Jahrhunderten ein besseres Leben.

Nichtsdestotrotz gibt es in breiten und oft einflussreichen Teilen von Politik und Gesellschaft eine neue Wissenschaftsfeindlichkeit. Fakten werden „alternative Fakten“ an die Seite gestellt, zum Beispiel Evolution oder Klimawandel infrage gestellt. Problematisch ist, dass wissenschaftliche Forschung immer spezieller und differenzierter wird und es oftmals an Transparenz fehlt.

Auch hier sind Museen aus allen Bereichen wie keine andere Institution in der Lage, den Menschen Zugang zu verschaffen, Wissen und Forschung disziplinenübergreifend verständlich und anschaulich zu vermitteln. Dabei gilt es, die Interessen der Besucher*innen aufzugreifen und Relevanz und Alltagsbezug herzustellen. Gerade digitale Methoden eignen sich für die Wissensvermittlung besonders gut.

Mittels Virtual Reality lassen sich ansonsten unzugängliche Lebensräume wie die Tiefsee oder das Zeitalter der Dinosaurier visualisieren, Augmented-Reality-Anwendungen sind das Mittel der Wahl, um darzustellen, wie Kreisläufe in der Natur, Organe des Menschen oder Gene funktionieren.

Senckenberg möchte Wissenschaft selbstbewusst und gleichzeitig selbstreflektiert darstellen. Das erfordert, sie anschaulich, spannend und persönlich zu vermitteln, ihre Stärken, aber auch ihre Grenzen offenzulegen und zur Diskussion zu stellen. Entsprechend werden im Museum (virtuelle) Wissenschaftler*innen als Personen in Erscheinung treten, über ihre Forschung berichten und Einblick in ihre tägliche Arbeit gewähren.

Parallel dazu dürfen Besucher*innen selbst in die Rolle des*der Forscher*in schlüpfen und (kleine) Experimente durchführen. Schon heute geben Wissenschaftler*innen im Rahmen von Veranstaltungen der Abteilung „Bildung & Vermittlung“ oder der neuen Edmontosaurus-Ausstellung ihr Wissen persönlich an Bürger*innen weiter, stehen für Fragen zur Verfügung. Für besonders Interessierte besteht darüber hinaus die Möglichkeit, als Bürgerwissenschaftler*in bei Senckenberg tätig zu werden.

Das Neue Museum steht für

// Globale, systemische und wissenschaftlich exzellente Geobiodiversitätsforschung mit dem Fokus auf  Biodiversität im dynamischen System Erde–Mensch

// Ausrichtung und enge Abstimmung von Ausstellung, Bildung und Vermittlung auf die Geobiodiversitätsforschung und die bedeutenden wissenschaftlichen Sammlungen von Senckenberg

// Wissen und Lösungen für die gesellschaftlich und politisch notwendigen Transformationen zur Verfügung stellen – unter Einbezug aller gesellschaftlichen Gruppen

04 Wie können Museen gesellschaftliche Transformationen voranbringen?

Um ein nachhaltiges Verhältnis von Mensch und Natur erreichen zu können, braucht es fundamentale Änderungen in allen Teilen des menschlichen Systems und damit eine große gesellschaftliche Transformation. Diese soll nicht nur technisch motiviert sein, sie muss auch von politischen Veränderungen und Änderungen in Werten, Haltungen und im persönlichen Verhalten getragen werden. 

Da Museumsbesucher*innen nicht zuletzt auch unterhalten werden möchten, müssen die Anstöße zum Umdenken ebenfalls „spielerisch“ sein. So können wir uns zum Beispiel dem Thema „Wald“ nähern, indem wir unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen – Förster*innen, Jäger*innen, Ökolog*innen oder Erholungssuchende – zu Wort kommen lassen.

Generell ist es in einer westlich geprägten Gesellschaft von Bedeutung, neben dem eigenen Standpunkt auch die Sicht anderer Menschengruppen zu berücksichtigen. Geht es um Wälder in Afrika, wäre der Fokus auf andere ethnische Gruppen und ihr Bild von Mensch und Natur zu legen – Multiperspektivität soll bisherige Denkmuster aufbrechen, neue Perspektiven eröffnen und das Bewusstsein der Besucher*innen erweitern.

Senckenberg möchte eine zentrale Rolle für die Unterstützung dieser Transformationen einnehmen. Mit seinen 850 Mitarbeiter*innen und in Zusammenarbeit mit Hunderten anderen wissenschaftlichen Einrichtungen können wir Wissen über das System Erde in seiner ganzen Breite authentisch weitergeben. Schließlich ist Senckenberg dank der Erforschung des Systems Erde–Mensch in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in der Lage, auch Transformationsprozesse im internationalen Maßstab zu unterstützen.

So lassen sich Zukunftsbilder und mögliche Wege zu dieser Zukunft multiperspektiv aus der Sicht verschiedener Ethnien, sozio-ökonomischer wie sozio-kultureller Gruppen und auch vonseiten der Kunst entwickeln.

Eine besondere Stärke auf diesem Weg stellen digitale Ansätze und soziale Medien dar. Sie machen die Mauern des Museums durchsichtig, öffnen neuen Besuchergruppen den Weg zu uns und bieten uns die Möglichkeit, mit der ganzen Welt zu kommunizieren.

Die Autorin

Prof. Dr. Katrin Böhning-Gaese ist Direktorin des Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrums, Professorin an der Goethe-Universität Frankfurt, Vize-Präsidentin der Leibniz-Gemeinschaft und Mitglied der Leopoldina. Seit 2013 wirkt sie im Direktorium der Senckenberg-Gesellschaft und verantwortet hier den Bereich „Wissenschaft & Gesellschaft“.