NFm-1-3-2021

Erdsystemforschung – eine Nummer kleiner geht es nicht!

Die Erforschung des Systems ist mittlerweile so vielfältig und vernetzt wie das System selbst.


Als einer der beiden Autoren vor Kurzem die umfassende und an globalen Zielen ausgerichtete Strategie einer Forschungseinrichtung lobend hervorhob, erntete er von seinem Gesprächspartner ein Schmunzeln: „Die Aussage verwundert nicht, wenn man bedenkt, dass Sie von einer Einrichtung kommen, die sich nicht weniger als die Erforschung der Biodiversität und des Erdsystems zum Ziel gesetzt hat!“.

Eine Nummer kleiner geht es also nicht? Aber wie nähert man sich dem Verständnis der vielfältigen Wechselbeziehungen der Natur mit Wasser und Eis, der festen Erde, der Vielfalt des Lebens bis hin zur Atmosphäre und den vielfachen menschgemachten Veränderungen, die uns vor mindestens ebenso komplexe Herausforderungen stellen? Wie nähert man sich einem Verständnis des Erdsystems?

Evolution und Gebirgsbildung

Am Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum Frankfurt arbeiten Wissenschaftler*innen aus Biologie, Geowissenschaften und (Paläo-)Klimaforschung interdisziplinär zusammen. Neben Erfassung, Dokumentation und Schutz der heutigen Artenvielfalt sowie den daraus entstehenden Ökosystemleistungen und ihrer Modellierung unter Klimawandelbedingungen gilt ein Augenmerk der evolutionären Entwicklung von Biodiversität in Wechselwirkung mit Klima und geologischen Prozessen wie der Gebirgsbildung.

Solche „Lessons from the Past“ bilden die wissenschaftliche Grundlage nicht nur für das Verständnis der biologisch-evolutionären Prozesse, die zur heutigen Vielfalt auf der Erde und damit auch zum Menschen geführt haben, sondern auch für die Einschätzung zukünftiger Entwicklungen des Systems Erde. Neben neuen Messdaten, Beobachtungen und Proben aus Forschungsexpeditionen steht dem Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum Frankfurt mit mehr als 21 Millionen Objekten aus geologisch-paläontologischen, botanischen und zoologischen Sammlungen ein einzigartiges Archiv der Natur zur Verfügung.

Trotz dieser Fülle an Informationen bleibt eine zentrale Herausforderung, aus den lückenhaften Dokumenten der Erdgeschichte Organismen und ganze Lebensräume sowie die Wechselwirkungen von belebter und unbelebter Natur zu rekonstruieren. Ein sehr wichtiges Beispiel ist die Frage, welche Rolle die Gebirgsregionen in der evolutionären Geschichte unseres Planeten gespielt haben.

NFm-1-3-2021
Blattadersystem des tropisch afrikanischen Baums
Piliostigma thonningii. Mit der Röntgenmethode lässt sich das komplizierte Nervaturmuster darstellen und analysieren, ohne das Blatt zu zerstören.

Blätter als Klima(wandel)zeugen

Vor dem Hintergrund einer sich zunehmend verschärfenden Biodiversitätskrise ist es notwendig zu verstehen, wie Artbildung, Ausbreitung, aber auch Aussterben von Arten mit den sich wandelnden Bedingungen auf der Erde zusammenhängen. Blätter von Pflanzen, insbesondere ihre Größe, Form und Blattarchitektur, können Hinweise auf „Klimawandelsignale“ liefern, sofern man diese Informationen zu lesen vermag. Ausgehend von der Annahme, dass unter den Pflanzenarten eines Lebensraums – je nach Umweltbedingungen (Temperatur, Niederschlag, Luftfeuchtigkeit) – bestimmte Merkmale im Blattaufbau überwiegen (Schneider et al. 2018), lassen sich Klimainformationen selbst Millionen Jahre alter Lebensräumen rekonstruieren.

Entscheidend ist dabei, dass diese Merkmale (siehe Abb. oben) auch in Blattfossilien erhalten und damit einer Untersuchung zugänglich sind und dass von den Lebensräumen nah verwandter, rezenter Arten auf die Lebensräume und Klimaansprüche der fossilen Vertreter geschlossen werden kann (Uhl & Mosbrugger 1999).

Das Wissen von Form und Funktion heute wird also zum Kompass für die Rekonstruktion der (Paläo-)Klimaentwicklung.

Mountain (Geo-)Biodiversity: Vielfalt auf vielen Ebenen

Gebirgsregionen tragen überproportional zur Artenvielfalt auf dem Land bei. Insbesondere in den Tropen bringen sie verblüffende Biodiversitäts-Hotspots hervor: Gebirge beherbergen mehr als 85 Prozent aller Amphibien, Vögel und Säugetierarten, obwohl diese Landschaften nur circa 25 Prozent des Festlands ausmachen (Rahbek et al. 2020).

Ein Grund für diese Ausnahmestellung sind die sich rasch ändernden Landschaftsformen und Klimabedingungen, die in Gebirgen vorherrschen: Nachdem man beim schweißtreibenden Aufstieg gerade noch ein von Regenfällen geprägtes Tiefland hinter sich gelassen hat, führt einen der Höhengradient nach nur wenigen Kilometern ins ewige Eis. Ein Verständnis der Entwicklung dieser vielfältigen geologischen und klimatischen Bedingungen ist entscheidend, wenn wir die biologische Evolution von Flora und Fauna in solchen Regionen verstehen wollen (z.B. Antonelli et al. 2018, Favre et al. 2015).

Moderne genomische Verfahren ermöglichen uns Einblicke in die über Millionen von Jahren andauernde Entwicklung von Gebirgsökosystemen; diese mit den geochemischen oder geologischen Herangehensweisen zum Entstehen der Gebirge in Einklang zu bringen, ist der Schlüssel zur erfolgreichen interdisziplinären Analyse dieser Biodiversitäts-Hotspots (Mosbrugger et al. 2018).

201221-NFM 1-13-21-Online-RZ-v2.indd
Biodiversität und Gebirgsbildung Klimatische, geologische und biologische Prozesse greifen ineinander und führen zur Entwicklung der Biodiversität in Gebirgsregionen. Der Einfluss klimatischer und geologischer Prozesse auf die Biosphäre ist bedeutend; es existieren allerdings vielfach Wechselwirkungen.

Biodiversitäts- und Erdsystemforschung

Sollte die Hebung der Gebirge tatsächlich bereits vor langer Zeit die Weichen für die in den Gebirgsregionen zu findende Biodiversität gestellt haben, müssen wir traditionelle Herangehensweisen, die die Zusammenhänge zwischen Klimawandel und Vielfalt der Pflanzenwelt herstellen, überdenken – und damit natürlich auch die Zukunftsprojektionen und die mit ihnen einhergehenden Schutzkonzepte für eine von hoher Ästhetik geprägte Landschaft (Rahbek et al. 2020).

Gleichzeitig spielt der Mensch selbst eine fundamentale, wenn auch häufig disruptive Rolle in den oftmals entlegenen Gebirgsregionen. Wohlstand und Sicherheit erfordern Infrastruktur: Straßen, Staudämme und Flächen, zum Beispiel für die (idealerweise regenerative) Energiegewinnung durch Wasserkraft oder für die Landwirtschaft. Im Gegenzug erkennen wir zunehmend nicht nur den ästhetischen, sondern auch den kulturellen Wert der Natur, ganz gleich ob wir uns vom Matterhorn oder dem imposanten Dach der Erde in Nepal faszinieren lassen.

Die beeindruckende Schönheit der Hochgebirgsregionen führt uns immer wieder neu vor Augen, welch unterschiedliche Werte es zu bewahren gilt. Und genau darin liegt die Chance: Die Schönheit der Gebirgsflora, deren Ursprung und Entwicklung Gipfel und Gletscher ebenso mitbestimmt haben wie Wind und Wetter, kann das Wohlergehen der Menschen in diesen herausfordernden Regionen sichern, wenn wir verantwortungsvoll mit ihrem zum Beispiel touristischen Wert umgehen.

Es liegt an uns allen, den richtigen Weg zu gehen …, oder wie Volker Mosbrugger es einmal augenzwinkernd ausgedrückt hat: „Natur müssen wir als Wert an sich verstehen; als unser Festgeldkonto. Sie ist nicht der Ort, an dem es Gewinne zu maximieren gilt!“.

Das Wissen, wie sich ein solches „Naturkapital“ gebildet hat, entsteht heute durch sorgfältige Beobachtung vor Ort ebenso wie in den Sammlungen von Naturmuseen, im Genomiklabor, im KI-Großrechner oder durch satellitengestützte Kartierung und die Rekonstruktion der Hebung von Gebirgen.

Erdsystemforschung: Eine Nummer kleiner geht es also wirklich nicht. Ganz im Gegenteil! Wir brauchen sie alle: die Wissenschaft als visionäre und zugleich faktenbasierte Ratgeberin sowie die Politik und die Wirtschaft, um auszuloten, was konsensfähig und umsetzbar ist. Vor allem aber brauchen wir eine mutige und interessierte Gesellschaft, die sich ambitionierte Ziele setzt und deren Umsetzung mit Engagement und Nachdruck vorantreibt.

Nach ausgiebiger Beobachtung glauben wir feststellen zu dürfen: Ein Ziel, das erst einmal kein Limit hat, ist das einzige, das Volker Mosbrugger sich setzen würde. Chapeau, Volker!

Literatur

Antonelli, A., Kissling, W.D., Flantua, S.G.A., Bermudez, M.A., Mulch, A., Muellner-Riehl, A.N.M., Kreft, H., Lindner, H.P., Badgley, C., Fjeldsa, J., Fritz, S.A., Rahbek, C., Herman, F., Hooghiemstra, H. & Hoorn, C. (2018): Geological and climatic determinants of mountain biodiversity. – nature geoscience, 11, 718–725.

Favre, A., Päckert, M., Pauls, S.U., Jähnig, S.C., Uhl, D., Michalak, I., Muellner-Riehl, A.N.M. (2015): The role of the uplift of the Qinghai-Tibetan Plateau for the evolution of Tibetan biotas. – Biological Reviews, 90, 236–253.

Mosbrugger, V., Favre, A., Muellner-Riehl, A.N.M., Päckert, M. & Mulch, A. (2018): Cenozoic evolution of Geo-Biodiversity in the Tibeto-Himalayan region. In: Mountains, Climate and Biodiversity, Hoorn, C., Perrigo, A. & Antonelli, A. (Hrsg.), Wiley, 429–448.

Rahbek, C., Borregaard, M.K., Colwell, R.K., Dalsgaard, B., Holt, B.G., Morueta-Holme, N., Nogues-Bravo, D., Whittaker, R.J. & Fjeldså, J. (2019): Humboldt’s enigma: What causes global patterns of mountain biodiversity? – Science, 365, 1108–1113.

Schneider, J.V., Negraschis, V., Habersetzer, J., Rabenstein, R., Wesenberg, J., Wesche, K. & Zizka, G. (2018): Taxonomic diversity masks leaf vein–climate relationships: lessons from herbarium collections across a latitudinal rainfall gradient in West Africa. – Botany Letters, 165 (3–4), 384-395.

Uhl, D. & Mosbrugger, V. (1999): Leaf venation density as a climate and environmental proxy: a critical review and new data. – Palaeogeography, Palaeoclimatology, Palaeoecology, 149, 15–26.

Die Autoren

NFm-1-3-2021
Prof. Dr. Andreas Mulch ist Direktor des Senckenberg Forschungsinstituts und Naturmuseums Frankfurt sowie seit 2010 Professor an der Goethe-Universität Frankfurt und am Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrum. Seit seiner Zeit als Postdoc an der University of Minnesota und der Stanford University beschäftigt er sich unter anderem mit der Rekonstruktion von Niederschlagsmustern und Topografie.
NFm-1-3-2021
Prof. Dr. Georg Zizka ist seit 1995 Professor am Institut für Ökologie, Evolution und Diversität des Fachbereichs Biowissenschaften an der Goethe-Universität. Am Senckenberg-Standort Frankfurt leitet er die Abteilung Botanik und molekulare Evolutionsforschung. Seit 2015 ist er Stellvertretender Direktor des Senckenberg Forschungsinstituts. Sein Interesse gilt unter anderem der Systematik und Evolution von Blütenpflanzen und dem Biodiversitätswandel unter dem Einfluss des Menschen und der Klimaerwärmung.