Um die gesellschaftliche Akzeptanz von Innovation zu steigern, brauchen wir eine enge Zusammenarbeit zwischen Wirtschaft und Wissenschaft. Carsten Kratz, Mitglied des Senckenberg-Präsidialausschusses, über seinen Austausch mit Volker Mosbrugger.
Es ist 7 Uhr früh, ich klingele am Seiteneingang des Senckenberg-Museums, Volker Mosbrugger holt mich dort ab. „Guten Morgen Volker!“ Auf dem Tisch in seinem Büro stehen schon Tee und Kaffee bereit, dazu zwei Croissants, die er auf dem Weg zur Arbeit besorgt hat. Wir setzen uns und fangen an, zu plaudern, über eines unserer Lieblingsthemen: Wissenschaft und Wirtschaft. Wo gibt es Parallelen? Wo wiederum liegen die Unterschiede? Gibt es Felder, in denen Wissenschaft und Wirtschaft voneinander lernen können? Was ist übertragbar, was nicht? Wie kann die Wissenschaft die Wirtschaft unterstützen?
Das sind nur einige der vielen Themen, die wir – beide Frühaufsteher – im Laufe der Jahre während unserer regelmäßigen Frühstückstreffen diskutiert haben. Es war mir immer ein großes Vergnügen, zusammen mit Volker Mosbrugger Fragen aus sehr unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten und im Kontext des aktuellen Geschehens zu reflektieren.
Drei Aspekte zogen sich dabei wie ein roter Faden durch unsere Diskussionen:
Das Verständnis von Systemen, wie sie in der Natur funktionieren und was die Wirtschaft daraus lernen kann.
Die Bedeutung von Vielfalt für Innovation.
Der Umgang unserer Gesellschaft mit Innovation gerade auch in einer datengetriebenen Welt.
Im Folgenden will ich kurz auf diese Punkte eingehen, ohne den Anspruch zu erheben, auch für Volker Mosbrugger sprechen zu können. Dieser Beitrag soll eine Überraschung für ihn sein, die Aussagen konnten insofern nicht vorab mit ihm abgestimmt werden. Dennoch hoffe ich, seine Sichtweisen weitestgehend richtig wiederzugeben.
Volker Mosbrugger ist jemand, der Menschen für Wissenschaft begeistert wie kaum ein anderer – nicht der Professor aus dem Elfenbeinturm. In seiner Amtszeit hat er den wissenschaftlichen Leuchtturm Senckenberg noch einige Lux heller erstrahlen lassen. Dafür wird ihm Frankfurt immer dankbar sein.
Peter Feldmann
Oberbürgermeister der Stadt Frankfurt a. M.
Systeme und Vielfalt
Die Natur hält viele Beispiele für „einfache“ und „komplexe“ Systeme bereit. Nehmen wir Räuber-Beute-Beziehungen: Die Populationsgrößen von Hasen und Füchsen beispielsweise unterliegen hohen Schwankungen. Steigt die Anzahl der Hasen in einer Region, wächst zeitversetzt auch die Population der Füchse. Allerdings nur so lange, bis die Anzahl der Füchse so stark angestiegen ist, dass der Bestand der Hasen wieder sinkt. Mit dem schwindenden Nahrungsangebot bricht die Fuchspopulation wieder ein und der Bestand der Hasen kann sich erholen. Solche einfachen Systeme ermöglichen wenig Wachstum, Ressourceneffizienz oder Widerstandsfähigkeit. Anders verhält es sich bei komplexen Systemen: Korallenriffe zum Beispiel zeichnen sich durch eine große Artenvielfalt aus. In intakten Riffen gibt es kaum Populationsschwankungen, sie wachsen schnell, nutzen die ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen effizient und sind daher sehr robust. Unter dem Strich gilt für Wissenschaft und Wirtschaft: Systeme entwickeln sich umso stabiler und nachhaltiger, je vielfältiger sie sind.
Vielfalt und Innovation
Vielfalt ist in der Wirtschaft die entscheidende Quelle, aus der wahrhaftig Neues entstehen kann – also das, was man Innovation nennt. Viele Unternehmen haben in den vergangenen Jahren enorme Veränderungen durchlaufen und tun dies weiterhin, weil das Umfeld, in dem sie agieren, in stetem Wandel begriffen ist.
Was aber macht Vielfalt in der Wirtschaft aus? Sind es vor allem soziodemografische Kriterien wie Geschlecht, Nationalität oder Religion? Oder sind es auch Unterschiede in den Fähigkeiten, Neigungen, in der Ausbildung? Für Unternehmen weltweit lautet die Antwort: alles das – und noch viel mehr. Unternehmen profitieren davon, wenn sie einen Ort der Begegnung für Frauen und Männer ganz unterschiedlicher Herkunft, kultureller Prägung oder auch sexueller Orientierung darstellen.
In Zeiten beschleunigten Wandels und zunehmender Volatilität braucht es ein neues Verständnis von Innovation – „facettenreiche Innovation“ beschreibt diese Herausforderung vielleicht am besten. Facettenreich deshalb, weil Innovation in vielen Dimensionen erfolgen kann. Technologie ist nach diesem Verständnis nur eine davon, andere Ausprägungen sind neue Produkte und Dienstleistungen, neue Prozesse, neue Möglichkeiten des Kundendialogs oder ganz neue Geschäftsmodelle. Für Wissenschaft und Wirtschaft gilt: Vielfalt fördert Innovation und Wachstum.
Innovation und Gesellschaft
Die Wirtschaft hat sich in den vergangenen Dekaden mit historisch nie dagewesener Dynamik weiterentwickelt. Das Zusammenspiel zwischen Mensch und Maschine beispielsweise ist ein völlig anderes als noch vor 30 Jahren. Und diese Entwicklung geht weiter. Sprach- und Bilderkennung ermöglichen es uns, Daten in einem Tempo zu erfassen, das wir nie für möglich erachtet hätten. Künstliche Intelligenz wird unser tägliches Leben und die Arbeit immer mehr prägen.
Innovation hat in der Vergangenheit gerade Deutschland Beschäftigung und Wohlstand gebracht, dennoch gibt es Vorbehalte in der Bevölkerung. Der Wissenschaft bietet sich die Chance, gesellschaftlich eine noch größere aufklärende Rolle bei diesem Themenkomplex einzunehmen, denn sie genießt ein besonderes Vertrauen in der Bevölkerung. Unter dem Strich gilt für Wissenschaft und Wirtschaft: Gesellschaftliche Akzeptanz von Innovation ist eine Voraussetzung für mehr Nachhaltigkeit.
Zusammenfassend drei Thesen, die, so hoffe ich, Volker Mosbrugger unterschreiben würde, und zu denen, so hoffe ich ebenfalls, auch Senckenberg als Institution stehen kann:
Systeme entwickeln sich umso stabiler, nachhaltiger und weniger oszillierend, je vielfältiger sie sind.
Vielfalt fördert Innovation und Wachstum.
Gesellschaftliche Akzeptanz von Innovation ist eine Voraussetzung für mehr Nachhaltigkeit.
Kooperation weiter vorantreiben
Ich würde mich sehr freuen, wenn Volker Mosbrugger auch nach der Übergabe seines Amts als Generaldirektor hier am Ball bleibt und sich in den gesellschaftlichen Dialog dazu einbringen würde. Ein Forschungsfeld, das Volker Mosbrugger sehr am Herzen liegt, bringt diese Thesen geradezu ideal zusammen: IoN – Internet of Nature. Die Frage nach den Systemzusammenhängen in der Natur ist sicher nicht neu, wohl aber, wie man aus den erfassten Daten intelligente Schlüsse ziehen kann und inwiefern diese Erkenntnisse für die Wirtschaft relevant sind. Weiter steht die Frage im Raum, wie sich mögliche Implikationen in die gesellschaftliche Diskussion einbringen lassen, um damit Nachhaltigkeit zu fördern. In Summe eine gewaltige Herausforderung – wie für Volker Mosbrugger gemacht.
Ganz besonders würde ich mich freuen, wenn dies in enger Kooperation mit Senckenberg erfolgen, wenn Senckenberg unter der neuen Führung von Klement Tockner weiterhin das Zusammenspiel Wissenschaft und Wirtschaft unterstützen und sich als Institution, vielleicht sogar verstärkt, in den gesellschaftlichen Dialog einbringen würde.
Ich weiß noch nicht, ob Klement Tockner auch ein Frühaufsteher ist. Aber so ein Frühstücksmeeting mit dem „alten“ und „neuen“ Generaldirektor hätte Charme. Für die Croissants sorge ich dann gerne, oder sollte es künftig eher Sachertorte sein?
Der Autor
Carsten Kratz ist seit 2019 Partner und Geschäftsführer bei Bridgepoint und leitet das Geschäft in Deutschland. Davor war er fast 30 Jahre bei BCG tätig. Seit einigen Jahren setzt er sich für mehr Vielfalt in Deutschlands Führungsetagen ein, darüber hinaus engagiert er sich in zahlreichen Organisationen ehrenamtlich. Seit Mitte 2018 gehört er dem Rat für Digitalethik an, der die Hessische Landesregierung berät.