Portrait
Verantwortlich für das Programm „Wissenschaft & Gesellschaft“: Professorin Katrin Böhning-Gaese

„Wir wollen wirkmächtiger, jünger, diverser und digitaler werden!“

7 Fragen an Katrin Böhning-Gaese


Senckenberg nimmt die Menschen mit – ob über die Forschung oder in seinen Naturmuseen. Der Austausch zwischen Wissenschaft und Gesellschaft spielt eine immer gewichtigere Rolle. Die Institutsdirektorin des SBiK-F Katrin Böhning-Gaese spricht über die neuen Herausforderungen.

01 Die neuere Wissenschaftsforschung zeigt, dass wissenschaftliche Erkenntnis immer auch im Zusammenhang mit ihrem gesellschaftlichen Kontext zu sehen ist. Wie sehen Sie das als Institutsleiterin des SBiK-F?

Geobiodiversitätsforschung, wie wir sie am Senckenberg betreiben, ist „systemrelevant“. Im Angesicht der Klima- und Biodiversitätskrise ist die Erforschung der Arten und Lebensräume heute und in früheren Zeiten eine Notwendigkeit. Nicht zuletzt, um aus der Vergangenheit für die Zukunft zu lernen. Andreas Mulch hat das in seinem Beitrag „Erdsystemforschung – eine Nummer kleiner geht es nicht“ sehr schön dargestellt. Wir dürfen hier keinesfalls Abstriche machen, müssen aber ebenso unseren Horizont erweitern und die naturwissenschaftliche Grundlagenforschung mit sozialwissenschaftlicher Forschung und anwendungsorientierten Problemstellungen verknüpfen. Zusätzlich ist es notwendig, die unterschiedlichen Interessen und Werte der Menschen ernst zu nehmen und Lösungen zu entwickeln, die diese unterschiedlichen Perspektiven berücksichtigen.

02 Haben die Naturwissenschaften ganz generell an den Belangen der Menschen vorbeigeforscht? Wo steht hier Senckenberg?

Ja und nein. Einerseits greift die Naturforschung von Senckenberg die Interessen der Menschen auf. Wir wünschen uns alle eine intakte Natur und saubere Umwelt; Umwelt(schutz)- und Naturthemen stehen heute hoch im Kurs. Artensterben und Klimawandel haben die Menschen mobilisiert, ließen sie näher an unsere Themen heranrücken als jemals zuvor. Auf der anderen Seite müssen wir enger mit Sozial- und Geisteswissenschaftler*innen sowie mit Künstler*innen und Vertreter*innen aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zusammenarbeiten. Nachhaltige Lösungen für diese existenziellen ökologischen Herausforderungen finden wir nur gemeinsam, durch Austausch und Zusammenarbeit. 

03 Woran forscht SBiK-F im Bereich Anwendung?

Senckenberg betreibt natürlich weiterhin vor allem Grundlagenforschung, doch es treten zunehmend spannende und konkrete Anwendungsansätze zutage. Den Bereich Technologietransfer beispielsweise wollen wir intensivieren und mit Akteur*innen und Anwender*innen außerhalb der Wissenschaft zusammenarbeiten. So haben wir am Laborzentrum von SBiK-F eine Apparatur mitentwickelt, die nicht-invasiv (!) die Vitalität von Pflanzen misst – ein wichtiges Instrument, um ihren Stresszustand zu untersuchen. Nehmen wir zum Beispiel die Stadtbäume: Die Früherkennung von Wasser- oder Nährstoffmangel, Hitze, Versalzung der Böden ist wichtig, um rechtzeitig gegensteuern zu können. Dieses Forschungsprojekt hat übrigens zu einer Ausgründung geführt: Phytoprove. Und um noch ein Beispiel zu nennen: Meeresbiolog*innen in Wilhelmshaven von BiomeID, ein weiteres Senckenberg-Spin-off, haben neueste Hochdurchsatz-Sequenzierungstechnologien entwickelt. Damit lassen sich beispielsweise Sammelproben Tausender Individuen und Millionen von DNA-Sequenzen in einem Arbeitsschritt analysieren. 

04 Wer sind unsere „Kund*innen“?

Phytoprove ist Dienstleister für gewerbliche Kunden, wie etwa Baumschulen, Gärtnereien, städtische Grünflächenämter und den Pflanzenhandel. BiomeID unterstützt Umweltberatungsfirmen, die im Rahmen ökologischer Gutachten die Meeresfauna erfassen, und arbeitet für staatliche Behörden. Auf der Basis ihrer Analysen lassen sich heranwachsende Fischpopulationen präzise abschätzen und Fangquoten festlegen, damit die Fischbestände nicht übernutzt und gefährdet werden.

05 Nach diesem Exkurs in die Wissenschaft will ich noch einen anderen Bereich ansprechen, das Frankfurter Naturmuseum. Brigitte Franzen hat jetzt als neue Museumsdirektorin ihre Arbeit aufgenommen. Was dürfen wir erwarten?

Frau Franzen schließt bei uns eine Lücke. Sie ist eine renommierte Kunst- und Kulturwissenschaftlerin, hat unter anderem Kunstgeschichte mit Schwerpunkt Architektur und Ethnologie studiert, was im Hinblick auf unser Zukunftsprojekt „Neues Museum“ ein großer Vorteil ist. Darüber hinaus hat sie viel Erfahrung in der Szenografie beziehungsweise Inszenierung, sie hat beeindruckende Ausstellungsprojekte realisiert und ist auch international sehr gut vernetzt. Wir möchten auch im Museum zukünftig häufiger mit den Sozial-, Geisteswissenschaften und der Kunst zusammenarbeiten, und wir wollen wirkmächtiger, jünger, diverser und digitaler werden, noch aktiver in den Dialog mit allen Altersgruppen der Gesellschaft treten. Und mit der Neugestaltung unseres Frankfurter Hauses haben wir die einmalige Gelegenheit, etwas wirklich Neues, Einzigartiges zu schaffen. 

06 Unser neuer Generaldirektor Klement Tockner sprach in diesem Zusammenhang von einem „Museum von Weltformat“, er sehe Museen als „Orte des Vertrauens“, an denen das Gezeigte als verbürgt wahrgenommen werde. Wie können wir diesem Anspruch gerecht werden?

Indem wir die Menschen für die wirklich wichtigen Themen sensibilisieren, als Mahner wirksam werden und ihnen wissenschaftliche Fakten verständlich und anschaulich vermitteln. Wir müssen selbstbewusst und selbstreflektiv die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen wissenschaftlicher Forschung sichtbar machen. Und – ganz wichtig – indem wir unsere Besucher*innen an der Erarbeitung von Lösungsstrategien und deren Umsetzung teilhaben lassen. Wir stehen vor gewaltigen Herausforderungen: Bevölkerungsanstieg, Artensterben, Klimawandel, Umweltverschmutzung und -zerstörung etc. Diese „großen Herausforderungen der Menschheit“ werden wir nur durch große Transformationen – in der Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und in der Wissenschaft – lösen können. Dazu müssen wir mit aufgeklärten und engagierten Bürger*innen zusammenarbeiten. 

07 Wie groß ist das Interesse zur Partizipation?

In unseren Museen hat sich durch viele neu geschaffene Plattformen und Formate eine neue Kultur der Begegnung herausgebildet, die sich auf den Dialog mit den Bürger*innen gründet. Unser Selbstverständnis beinhaltet Offenheit und Wertschätzung gegenüber Wissen und Interessen der Gesellschaft. Wir begegnen gesellschaftlichen Akteur*innen auf Augenhöhe, greifen wenn möglich gesellschaftliche Fragestellungen auf und adressieren sie in unserem Forschungsprogramm. Das nehmen die Menschen wahr. Und da ich gerade von Bürger*innenengagement bei der Umsetzung sprach: Aktuell arbeiten circa 1800 Bürgerwissenschaftler*innen in über 25 Citizen-Science-Projekten mit, sie sammeln große Datenmengen, stellen sie über digitale Online-Meldeportale der Wissenschaftsgemeinde und der Öffentlichkeit bereit – was hauptberufliche Wissenschaftler*innen neben ihrem Tagesgeschäft niemals leisten könnten. Darüber hinaus gestalten wir zusammen mit Bürger*innen Ausstellungen. Es gibt sogar Bürgerwissenschaftler*innen, die unter Berücksichtigung wissenschaftlicher Standards eigenständig Fachartikel veröffentlichen. Eigentlich bin ich sehr guter Dinge: So viele Veränderungen in die richtige Richtung, wie ich sie derzeit beobachte, sind mir in 30 Jahren wissenschaftlicher Forschung nicht untergekommen.

Das stimmt zuversichtlich. Ich danke Ihnen für Ihre Ausführungen!

Das Interview führte Thorsten Wenzel.