Das Verschwinden der Wasserinsekten


Was die Insektengemeinschaft angeht, gehört der osthessische Breitenbach zu den am besten untersuchten Fließgewässern der Welt. Denn über vier Jahrzehnte wurde er fast täglich beprobt. Diese umfangreichen Daten wurden kürzlich von Wissenschaftler*innen am Senckenberg-Standort Gelnhausen analysiert und führten zu erstaunlichen Erkenntnissen.

Das Insektensterben ist in jüngster Zeit in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Die von der Wissenschaft verlautbarten Zahlen gründen sich dabei fast ausschließlich auf terrestrische Insekten, während Untersuchungen zum Rückgang aquatischer Insekten seltener sind. Noch seltener sind jedoch Langzeitstudien, die gleichzeitig Veränderungen in den Lebensgemeinschaften und in bedeutenden Umweltparametern berücksichtigen. Doch es gibt sie. Ein Team von Senckenberg-­Forscher*innen hat kürzlich die Ergebnisse eines langjährigen Monitoring-­Projekts veröffentlicht.

Vorausgegangene Untersuchungen

Studien zu terrestrischen Insekten belegen Rückgänge von bis zu 76 Prozent innerhalb der letzten 30 Jahre. Die Hintergründe dieser Entwicklung sind komplex und schwierig zu rekonstruieren. Vielfach fehlen fundierte und über lange Zeiträume erhobene Daten, nicht nur zu den Insekten selbst, sondern auch zu Umweltparametern (z.B. Klima, Landnutzung), die mögliche Änderungen der Insektenfauna erklären. Klimaveränderungen können beispielsweise vielerlei Effekte auslösen – wodurch Arten, die mit wärmeren Temperaturen besser zurechtkommen, profitieren, andere jedoch beeinträchtigt werden.

Die Breitenbach-Studie

Der Breitenbach ist 6,3 km lang und fließt durch das rund 610 Hektar große Naturschutzgebiet „Breitenbachtal bei Michelsrombach“, das bereits seit 1990 besteht. Dies ist wohl einer der Gründe für seine hohe Wasserqualität. Dass es sich um ein weitgehend unberührtes Gewässer handelt, muss die Wissenschaftler*innen auf den Plan gerufen haben, die hier seit 1969 regelmäßig – und zwar fast täglich – ihre Untersuchungen durchführen (Wagner et al. 2011). Sie interessierten sich besonders für Wasserinsekten, maßgeblich Eintags-­, Stein-­ und Köcherfliegen. Darüber hinaus erhoben sie weitere Parameter wie etwa Wassertemperatur und Abflussmenge. Es ist ein absoluter Ausnahmefall in der Wissenschaft, Daten mit solcher Detailgenauigkeit über einen so langen Zeitraum zu sammeln. Mehr noch ist es ein Glücksfall, auf diese Zeitreihen zurückgreifen zu können, denn Störfaktoren (z. B. Verschmutzung, Landnutzung und Invasionen) spielen am Breitenbach keine Rolle, sodass sich die Daten als Referenz heranziehen lassen, wenn es darum geht, die Auswirkungen der Klimaerwärmung auf die Wasserinsektenfauna zu untersuchen.

Wassertemperatur und Abfluss: nicht lineare Veränderungen

Die gemessenen Wassertemperaturen schwankten stark, stiegen jedoch innerhalb von 42 Jahren von 7,3 auf 9,2 Grad Celsius an (Abb. 1). Dies entspricht einer Veränderung von 1,9 Grad Celsius über den gesamten Zeitraum beziehungsweise einem durchschnittlichen jährlichen Anstieg von 0,044 Grad Celsius. Der Anstieg in der Wassertemperatur wurde begleitet von einem Abfall der Anzahl der Wasserinsektenindividuen um 81,6 Prozent oder 1,94 Prozent pro Jahr (Abb. 2). Gleichzeitig jedoch stieg die Anzahl der Wasserinsektenarten bis 1990 deutlich an, um anschließend wieder abzunehmen (Abb. 3). Die Wende bei der Artenzahl geht einher mit einem weiteren Klimasignal: einer deutlichen Veränderung im Abfluss. Während wir bis 1990 einen ständigen Wechsel verschiedenster Abflusssituationen beobachteten, war das Abflussgeschehen ab 1990 deutlich monotoner und vor allem durch längere Niedrigwasserphasen geprägt (Abb. 4). Die zunehmend trockeneren Sommer zeigen bereits Wirkung.

Veränderungen in der Insektengemeinschaft

Interessant ist auch ein vergleichsweise hoher Artenwechsel (Turnover) über die Zeit. Insgesamt sind über die 42 Jahre zwar mehr Arten neu hinzugekommen als verschwunden, allerdings ist dieser Zuwachs an Arten hauptsächlich auf die Zeit vor 1990 zurückzuführen. Danach halten sich die Neuankömmlinge und die Verluste in etwa die Waage. Mit den Temperaturen änderte sich auch das jahreszeitliche Auftreten der Wasserinsekten: So ist der Schlupfhöhepunkt der Wasserinsekten im Schnitt 13,4 Tage früher im Jahr und ihr Schlupfzeitraum über das Jahr insgesamt 15,2 Tage länger (Abb. 5). Ein früherer Schlupfhöhepunkt kann zu einer zeitlichen Verschiebung des Auftretens der Wasserinsekten und beispielsweise des Brutbeginns von Vögeln führen, die sich von ihnen ernähren.

Was bedeuten diese Beobachtungen?

Die Veränderungen zeigen starke Kurzzeitschwankungen – mit Zeitfenstern von unter fünf Jahren – und unterstreichen damit die Bedeutung ausreichend langer Beobachtungszeiträume. Die Langzeittrends sind dabei überwiegend nicht linear, sondern können wie gezeigt auch erst zu-­ und dann wieder abnehmen. Auch solche Effekte erkennt man nur über längere Zeiträume. Durch das gleichzeitige Erfassen der Wasserinsektenfauna und relevanter Umweltparameter konnten wir zeigen, dass der Klimawandel bereits zu deutlichen Veränderungen in der Wasserinsektenfauna geführt hat. Der Klimawandel ist also nicht nur ein Problem der Zukunft, sondern bereits Realität. Besonders in den letzten Jahren ist durch Studien wie unsere, aber auch eine Reihe weiterer, die hohe Bedeutung einer systemischen Langzeitforschung, wie sie bei Senckenberg betrieben wird, deutlich geworden.

Literatur

Baranov, V., Jourdan, J., Pilotto, F., Wagner, R. & Haase, P. (2020): Complex and nonlinear climate‐driven changes in freshwater insect communities over 42 years. – Conservation Biology. • Pilotto, F., Kühn, I., Adrian, R., Alber, R., Alignier, A., Andrews, C., … & Benham, S. (2020): Meta­analysis of multidecadal biodiversity trends in Europe. – Nature communications, 11(1), 1–11.

Jourdan, J., O‘Hara, R.B., Bottarin, R., Huttunen, K.L., Kuemmerlen, M., Monteith, D., … & Springe, G. (2018): Effects of changing climate on European stream invertebrate communities: A long­term data analysis. – Science of the Total Environment, 621, 588–599.

Wagner, R., Marxsen, J., Zwick, P. & Cox, E.J. (2011): Central European streamecosystems: the long term study of the Breitenbach. Winheim, Germany: Wiley Blackwell.

Die Autoren

NFM 10-12-2020
Prof. Dr. Peter Haase ist Gewässerökologe und Leiter der Außenstelle Gelnhausen. Darüber hinaus ist er als Professor an der Fakultät für Biologie der Universität Duisburg­Essen tätig. Sein wissenschaftliches Interesse gilt der ökologischen Langzeitforschung in Flüssen und Auen. Im Vordergrund stehen die Auswirkungen von Umweltveränderungen auf Invertebraten.
NFM 10-12-2020
Dr. Phillip J. Haubrock studierte Biologie an der Universität Kassel und promovierte im Bereich Invasionsbiologie an der Universität von Florenz. 1998 kam er in die Abteilung für Fließgewässerökolgie und Naturschutzfoschung am Standort Gelnhausen. Hier erforscht er den Einfluss von Stressoren – zum Beispiel die Präsenz invasiver Arten und des Klimawandels – auf aquatische Ökosysteme und die damit einhergehenden ökologischen Veränderungen.