Portrait

Im Interview: Katrin Böhning-Gaese

„Auf Augenhöhe mit der Gesellschaft“

Frau Böhning-Gaese, in dem von Ihnen vorgestellten Konzept ist von gesellschaftlichen Transformationen die Rede. Welche Rolle spielt Senckenberg dabei?

Spätestens seit der Veröffentlichung des Globalen Berichts des Weltbiodiversitätsrats im Mai 2019 ist klar, dass die Biodiversität als Lebensgrundlage der Menschen dramatisch bedroht ist. Nehmen wir das Artensterben: Von weltweit rund acht Millionen Arten sind eine Million vom Aussterben bedroht. Gleichzeitig geht der Klimawandel derzeit fast ungebremst weiter. Wir bei Senckenberg betreiben Geobiodiversitätsforschung und widmen uns vielen dieser Fragen – aber wir möchten das nicht alleine tun, sondern zusammen mit den Menschen.

Welche Impulse kann die Wissenschaft, kann Senckenberg hier setzen? Wie erreichen wir die Menschen?

Unser Ziel ist es, den Dialog mit der Gesellschaft auszubauen. Naturkundliche Museen sind Orte der Begegnung und für einen solchen Austausch wie geschaffen. Die meisten Besucher*innen kommen, weil sie staunen und spannende Geschichten hören möchten. Immer mehr Menschen kommen aber auch zu uns, weil sie sich um unseren Planeten Erde sorgen und sich informieren möchten. Deshalb brauchen wir neben Ausstellungen und Exponaten im Museum auch Raum und Zeit zum Nachdenken und zum Gedanken- und Meinungsaustausch – und zwar auf Augenhöhe!

Was muss sich hierfür im Museum ändern?

Im Januar 2019 fand ein hochkarätig besetzter Workshop statt, der natur-, sozial- und geisteswissenschaftliche, künstlerische und gestalterische Expertisen zusammenbrachte. Neben inhaltlichen Fragen und konzeptionellen Überlegungen zur Ausstellung standen auch grundsätzliche Überlegungen zur Schnittstelle Wissenschaft–Gesellschaft auf der Agenda. Die Ergebnisse dieses Arbeitstreffens sind in die Planungen des Museumsumbaus eingegangen. Grundsätzlich gilt: Wir setzen mit dem Neuen Museum auf eine offene Dialogkultur.

Werden wir die Besucher*innen damit nicht überfordern?

Ich denke, wir können unsere Besucher*innen nicht überfordern, sondern nur überfrachten. Wir möchten heute und in Zukunft beides sein, ein Ort zum Staunen und zum (konstruktiven) Streiten. Um die unterschiedlichen Erwartungen der Besucher*innen erfüllen zu können, wird es Räume geben, die komplexes Wissen bereitstellen, Räume, die immersive Erlebnisse ermöglichen, oder auch solche, in denen wir aktuelle politische und gesellschaftliche Themen diskutieren können.

… und dabei auf die Expertise von Wissenschaftler*innen zurückgreifen?

Ja, und wir tun dies schon seit Langem im Rahmen öffentlicher Vorträge, Podiumsdiskussionen, aber auch mit neuen Formaten wie dem Youth Earth Talk, dem Klimafrühstück oder den Zukunftsdialogen. Viele gesellschaftliche Themen sind derart komplex, dass wir sie, ohne uns intensiv mit ihnen zu beschäftigen, nicht durchdringen können. Für viele Menschen ist es nicht mehr nachvollziehbar oder verständlich, wo und wie Forscher*innen ein Durchbruch gelungen ist. Hinzu kommt Skepsis gegenüber wissenschaftlichen Erkenntnissen und ihren Auslegungen. Bei Fragen zu Impfstoffen oder zur Genforschung zum Beispiel sind weite Teile der Gesellschaft verunsichert, weil die Transparenz fehlt. Hier kommen Bildungsinstitutionen ins Spiel. Sie müssen dazu beitragen, Menschen das Rüstzeug für die richtigen Entscheidungen zu liefern.

Was würden Sie sich im Hinblick auf die großen Fragen der Naturforschung für unsere Museumsbesucher*innen wünschen?

Wichtig wäre, unsere Besucher*innen zu ertüchtigen, Wissenschaft und Forschung selbstverantwortlich und selbstbestimmt zu erleben. Es wäre schön, wenn sie das Museum als andere Menschen verlassen, als sie es betreten haben, ihnen gewahr wird, wie faszinierend, schön und einzigartig unser Heimatplanet ist – gleichzeitig sollen sie erkennen, wie sich das System Erde unter dem Einfluss von uns Menschen verändert und seine Fähigkeit verliert, weiterhin all das bereitzustellen, was wir für unsere Existenz brauchen. Wir haben es selbst in der Hand. Jede*r von uns kann einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, dass die Erde auch in Zukunft für unsere Kinder und Enkelkinder genauso schön und lebenswert bleibt, wie sie es heute noch ist.

Das Interview führte Thorsten Wenzel.

Zur Person

Prof. Dr. Katrin Böhning-Gaese ist Direktorin des Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrums, Professorin an der Goethe-Universität Frankfurt, Vize-Präsidentin der Leibniz-Gemeinschaft und Mitglied der Leopoldina. Seit 2013 wirkt sie im Direktorium der Senckenberg-Gesellschaft und verantwortet hier den Bereich „Wissenschaft & Gesellschaft“.

Lesen Sie auch das Interview mit Kathrin Böhning-Gaese anlässlich des Tags des Vogels.

Thorsten Wenzel studierte Forstwissenschaften an der Universität Freiburg. Im Anschluss ging er in die Forschung und widmete sich der Monetarisierung von Ökosystemleistungen des Waldes. 2004 kam er zu Senckenberg und wurde 2007 als Wissenschaftsredakteur mit der Leitung des Senckenberg-Magazins betraut. Seit 2010 ist er im Stab Kommunikation tätig und hier für die populärwissenschaftlichen Publikationen verantwortlich.