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Tiefseeforschung tut Not


Torben Riehl ist Meeresbiologe bei Senckenberg und erforscht vor allem das Ökosystem Tiefsee und seine Organismen. Neben seiner wissenschaftlichen Arbeit sucht er den Dialog mit der Öffentlichkeit, zum Beispiel in Führungen und Vorträgen. Weiter berät er das Museumsteam bei den gerade neu entstehenden Ausstellungsbereichen Tiefsee und Meeresforschung. Auch im neuen Tiefseebuch wirkte er als Autor mit. Im Folgenden legt er einen Extrakt daraus vor – ein Manifest für die Tiefseeforschung.

Vor rund 150 Jahren galt die Tiefsee noch als vollkommen unbelebt. Erst wenige Jahrzehnte – seitdem wir mit technischen Geräten wie Schlitten, Kameras, U-Booten und Tiefseerobotern Tausende Meter tief ins Dauerdunkel vordringen können – wissen wir, dass dort unter extremen Bedingungen Leben wächst und gedeiht. Die Tiefseeforschung ist noch jung und sehr dynamisch, unsere technischen Möglichkeiten werden immer besser, und so können wir noch viele bahnbrechende Entdeckungen in diesem unerforschten Lebensraum erwarten. Der Erkenntnisgewinn in der organismischen Biodiversitätsforschung ist enorm, bei jeder Expedition fördern die Wissenschaftler*innen neue Spezies zutage.

Biodiversität im Schutz der Tiefsee

Wie viele Arten in den Tiefen der Ozeane vorkommen, wissen wir nicht – einige Schätzungen gehen von annähernd zehn Millionen Arten aus, die noch auf ihre Entdeckung warten. Fakt ist: Die Tiefsee beherbergt ein enormes, noch größtenteils unbekanntes Artenreservoir. Und ihre Spezies sind vor kurzfristigen Umweltkatastrophen, die an Land mitunter verheerende Konsequenzen nach sich ziehen, durch die puffernde Trägheit des Meerwassers geschützt. In den unterschiedlichen Lebensräumen der Tiefsee – den Kaltwasserkorallenriffen, hydrothermalen Schloten und schier endlosen Tiefseeebenen – finden sich etwa 80 Prozent der gesamten Biomasse der marinen Bodenzone, und zwar in Form unzähliger Tier- und Mikrobenarten. Diese komplexen Organismengemeinschaften bilden die Nahrungsgrundlage für viele Meerestiere, auch solche, die in flacheren Meereszonen leben, darunter wirtschaftlich bedeutsame Spezies – ohne die Tiefsee blieben manche Fischgründe leer.

Jagd Tauchboot Greifarm
Mit „Scoop Tubes“ am Greifarm des Tauchboots JAGO können die Piloten fragile Organis­men einfangen bzw. einsaugen.

Schlüsselrolle im globalen Klimageschehen

  1. Als elementarer Bestandteil des Systems Erde spielt die Tiefsee bei globalen Prozessen eine nicht zu unterschätzende Rolle. Dazu gehören beispielsweise Stoffkreisläufe atmosphärischer Gase, allen voran des CO2. Aufgrund ihrer hohen Speicherfähigkeit für CO2 ist die Tiefsee ein maßgeblicher Faktor in den am Klimawandel beteiligten Prozessen. In der ersten vollständigen Kohlenstoffbilanz der Erde von 2019 heißt es, dass 37 000 von 43 500 Gigatonnen oberhalb der Erdoberfläche auf die Tiefsee entfallen, deren CO2-Senke trotz steigender Emissionen noch intakt ist. Zum Vergleich: Die Atmosphäre enthält insgesamt gerade einmal 590 Gigatonnen Kohlenstoff. Auch unser regionales Wetter wird von der Tiefsee mitgesteuert, indem sie – über Meeresströmungen wie den Golfstrom – am Energietransport vom Äquator zu den Polen mitwirkt. Auch für weitere (Stoff-)Kreisläufe spielt die Tiefsee eine essenzielle Rolle, wie beispielsweise für Stickstoff. Diese Aspekte greift auch das neue Tiefseebuch auf.
Jagd Tauchboot
JAGO ist das einzige bemannte Tauchboot Deutschlands, dass bis in Tiefen von 400 m operieren kann. Bei Tauchgängen sind ein*e Pilot*in und ein*e Wissen­schaftler*in an Bord.
Lebt im nördlichen Pazi­fik in Tiefen bis 1000 m: der Glaskopffisch Macro­pinna microstoma. Das Monterey Bay Aquarium Research Institute forscht intensiv über diese Tiere.

Ressourcen am und im Meeresboden

Zu den noch weitgehend ungehobenen Schätzen der Tiefsee gehören außerdem Rohstoffe wie Manganknollen und andere wertvolle Metalle sowie fossile Energieträger wie Methanhydrat, Erdöl und Gas. Um den Erfordernissen und Nöten der wachsenden Weltbevölkerung, der globalen Ernährung und Fortentwicklung moderner Technologien Rechnung zu tragen, werden wir wohl nicht umhinkommen, diese Ressourcen zu nutzen. Dabei gilt es jedoch sicherzustellen, dass wir dieses sensible Ökosystem nicht so umfänglich stören oder schädigen, dass es die für uns (über)lebensnotwendigen Ökosystemleistungen nicht mehr erbringen kann.

„Too big to fail“

Käme es zum (Teil-)Zusammenbruch des Ökosystems Tiefsee, hätte das auch ökonomisch betrachtet fatale Folgen für die Menschheit. „Too big to fail“ lautet ein volkswirtschaftliches Prinzip, demzufolge „systemrelevante“ Unternehmen bei Notlagen von staatlicher Seite mit aller Konsequenz zu schützen sind, um einen Kollaps des gesamten Wirtschaftssystems zu verhindern. Ihrer Rolle im System Erde entsprechend ist die Tiefsee unbedingt als „too big to fail“ einzustufen – „zu groß und zu wichtig, um sie scheitern zu lassen“, sie ist für unseren Planeten und auch für die Menschheit überlebenswichtig. Rüstzeug beziehungsweise Grundlagen, um die richtigen Entscheidungen im Umgang mit dem Ökosystem Tiefsee zu treffen, liefert die Forschung.

Über die Erforschung der möglichen kommerziellen Nutzung der Tiefsee und die potenziellen Auswirkungen solcher Eingriffe für das Ökosystem hinaus liefert die Tiefseeforschung noch ganz andere Antworten. Die Klimageschichte der Erde zum Beispiel ist über Jahrmillionen hinweg in den Sedimenten der Tiefsee aufgezeichnet – womit wir Schlüsse aus der Vergangenheit ziehen, die Zukunft besser vorhersagen und die Menschheit auf künftige Herausforderungen vorbereiten können.

Der Autor

Dr. Torben Riehl begann 2009 am Senckenberg DZMB zu arbeiten, promovierte und forschte im Anschluss an der Universität Hamburg. Seit 2017 ist er Wissenschaftler in der Marinen Zoologie am Senckenberg-Standort Frankfurt. Er erkundet neu entdeckte Lebensräume des Abyssals und gibt unbekannten Meeresasseln einen Namen. Ziel seiner Forschung ist es, die Entstehung der Artenvielfalt am tiefen Meeresboden besser zu verstehen.